Gefährliche Stille
hatte jetzt offiziellen Angehörigenstatus, verbürgt durch meine
Halbschwester, und würde endlich meine leibliche Mutter sehen, wenn auch nicht
sprechen können. Ich wollte es so sehr und hatte gleichzeitig Angst davor, ein
Anziehungs-Abstoßungs-Mechanismus, der meine Gefühle von einem Extrem ins
andere katapultierte, weshalb ich mir sagte, dass da etwas war, was ich vorher
noch tun sollte.
Vor dem Hotel nahm ich den Stadtplan
heraus, den mir die Autovermietung gegeben hatte, und lokalisierte die Eighth
Street ein Stückchen jenseits der Plaza. Milford’s Fish House residierte in der
Nordwestecke des ansprechend renovierten Lagerhauskomplexes. Ich ging am
Eingang vorbei und um die Ecke, wie es Saskia getan hatte, folgte der Eighth
Street in Richtung einer fernen Baumreihe, die den Fluss markierte. Die Gegend
bestand aus kleinen Gewerbebetrieben — Wäschedienst, Raumausstatter,
Party-Service, Autowerkstatt — , die alle schon geschlossen hatten; trotz der
nahe gelegenen Restaurants und Läden war hier so gut wie niemand mehr
unterwegs. Unter einer Laterne blieb ich stehen und konsultierte noch einmal
den Stadtplan. Wenn man davon ausging, dass Saskia hier keine Abkürzungen
kannte, hatte sie wohl den logischen Weg genommen: die Eighth bis zur River Street,
die River bis zur Tenth.
Auf der River Street rauschten Autos an
mir vorbei, aber sobald ich nach dem kurzen Stück in die Querstraße einbog,
fühlte ich mich im Niemandsland. Die Straße war kaum mehr als ein Teerweg, mit
einem Umzugswagendepot und einem Blumengroßhandel am Anfang, dann diversen
anderen Gewerbebetrieben und dazugehörigen Parkplätzen. Ich folgte ihr, vorbei
an dunklen Laderampen. Glasscherben knirschten unter meinen Füßen.
Ich sah, dass es sich um eine Sackgasse
handelte, die einen Block weiter am Freeway-Zubringer endete. Dort waren zwei,
drei dunkle Häuser auf verunkrautetem Gelände und ein paar unbebaute
Grundstücke voller Müll — der ideale Platz, um in einem Wagen mit laufendem
Motor zu warten, bis das herbestellte Opfer auftauchte. Ich sah mich um,
musterte meine unmittelbare Umgebung: Maschendrahtzäune riegelten die
Parkplätze ab; ein Sicherheitsscheinwerfer über dem Tor eines
Hausmeistereibedarf-Markts flackerte; die Fenster einer Landwirtschafts-Consultingfirma
waren vergittert.
Es wurde jetzt rapide kühler, und vom
Fluss her wehte ein Wind, der den Geruch von brackigem Wasser herantrug. Der
Verkehrslärm von der River Street wurde durch die Gebäude gedämpft, und das
einzige Geräusch hier in der Sackgasse war das Brummen eines Generators. Letzte
Nacht hatte Saskia ungefähr hier gestanden, wo ich jetzt stand. Wen hatte sie
erwartet? Was hatte sie gedacht, als sie den Motor des Wagens aufdrehen hörte,
die Schweinwerfer auf sich zukommen sah? Was hatte sie gemacht? Was war in ihr
vorgegangen?
Ich schüttelte die sinnlosen
Spekulationen mit einem Achselzucken ab, machte mich auf den Rückweg in
Richtung Fluss. Saskia war freiwillig hierher gekommen, wahrscheinlich sogar,
ohne die Wahl des Treffpunkts in Frage zu stellen. Ich nahm mein Notizbuch
heraus, begann, mir die Firmennamen genau zu notieren. Die Polizei hatte hier
sicher schon alles abgeklappert, um eine mögliche Verbindung zu Saskia zu
finden, aber vielleicht wusste Robin ja irgendetwas, das ihnen entgangen war.
Robin saß allein an Saskias Bett, eine
müde, kraftlose Gestalt, zusammengesunken auf einem Plastikstuhl. Ich blieb
zögernd in der Tür stehen, und als sie meine Anwesenheit spürte, winkte sie
mich heran. Ich zauderte immer noch, da mein emotionales Ping-pong noch einen
Zahn zugelegt hatte. Wenn ich dort hinüberging, zu der an Tropf und Monitor
hängenden Gestalt, würde mein Leben die nächste ungeahnte Wende nehmen.
Schließlich stand Robin auf und kam zu
mir herüber. »Alles in Ordnung?«, fragte sie.
Ich zuckte nur die Achseln, weil der
Fluchtdrang so mächtig war. Ich fühlte familiäre Verpflichtungen und Ansprüche
nach mir greifen wie gierige Tentakel. Die Luft im Zimmer schien zum Schneiden;
ich konnte kaum atmen. Schlimm genug, eine hoch problematische Familie
zu haben, aber ich hatte jetzt schon zwei — drei, Austin und seinen Vater
mitgerechnet. Wie sollte ich den Erwartungen so vieler Menschen gerecht werden?
Wie um meine Verwirrung noch zu
steigern, sagte Robin: »Ich habe Darce heute Nachmittag gesagt, wer du bist. Er
ist halb wahnsinnig vor Eifersucht, aber da kommt er schon drüber weg.«
»Wieso sollte er
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