Gefährliche Trauer
Gefühle unempfänglich gemacht. Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen so etwas sagen muß, aber Sie lassen mir keine andere Wahl. Schwestern sind für ihren zwielichtigen Lebenswandel bekannt - und kaum darum zu beneiden. Eine rechtschaffene Frau begibt sich nicht in Situationen, in denen so etwas passieren könnte. Die bloße Vorstellung ist absurd - und abstoßend.«
»Es ist ganz und gar nicht absurd«, widersprach Hester entschieden. »Furchterregend ist das. Die Annahme, man könnte dem vorbeugen, indem man sich zurückhaltend und unauffällig verhält, ist ausgesprochen bequem.« Sie holte tief Luft. »Aber es ist Unsinn und bringt einen nur dazu, sich in falscher Sicherheit zu wiegen und sich vorzugaukeln, als hochmoralischem Menschen würden einem der Schmerz und die Demütigung einer Vergewaltigung erspart bleiben. Wir würden alle gern glauben, daß uns oder jemandem, den wir kennen, so etwas niemals passieren kann, es entspricht nur leider nicht der Realität.« Sie brach ab und beobachtete die Reaktion der anderen. Romolas Unglauben verwandelte sich in schockierte Empörung, auf Beatrices erstauntem Gesicht zeigte sich ein erster Funke von Hochachtung, Araminta betrachtete sie mit allergrößtem Interesse und einem Blick, der so etwas wie Wärme enthielt.
»Sie vergessen sich!« stieß Romola aus. »Wissen Sie nicht, wen Sie vor sich haben? Ich habe keine Ahnung, was für Menschen Sie gepflegt haben, bevor Sie zu uns gekommen sind, aber ich kann Ihnen versichern, daß wir nicht mit Leuten verkehren, die Frauen schänden.«
»Du bist eine solche Närrin«, sagte Araminta mit Todesverachtung. »Manchmal frage ich mich, in was für einer Welt du eigentlich lebst.«
»Minta!« rief Beatrice sie in schneidendem Tonfall zur Ordnung. »Ich denke, wir haben das Thema jetzt genug strapaziert, Mr. Monk wird diese Angelegenheit in die Hand nehmen. Wir können im Moment gar nichts tun. Hester, würden Sie mir bitte nach oben helfen? Ich möchte mich gern hinlegen. Das Dinner müßt ihr ohne mich einnehmen, außerdem wünsche ich nicht gestört zu werden, bis es mir wieder besser geht.«
»Wie passend«, bemerkte Araminta kalt. »Aber wir kommen auch ohne dich zurecht. Es gibt nichts, wofür du gebraucht wirst. Ich werde mich um alles kümmern und Papa Bescheid sagen.« Sie drehte sich energisch zu Monk um. »Guten Tag, Mr.
Monk. Zweifellos haben Sie heute genug gehört, um die nächste Zeit beschäftigt zu sein - wenn vermutlich auch nicht mehr dabei herauskommt, als daß Sie einen überaus fleißigen Eindruck erwecken. Ich wüßte nicht, wie Sie irgend etwas beweisen könnten welchen Verdacht Sie auch haben mögen.«
»Verdacht?« Romola sah erst Monk, dann ihre Schwägerin an. Die Angst ließ ihre Stimme wieder anschwellen. »Was für ein Verdacht? Was hat das mit Octavia zu tun?«
Doch Araminta beachtete sie nicht und marschierte an ihr vorbei aus dem Raum.
Monk stand auf, entschuldigte sich bei Beatrice, nickte Hester kurz zu und hielt ihnen die Tür auf. Romola bildete die Nachhut; sie war verstört und verärgert, aber nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun.
Kaum hatte Monk das Polizeirevier betreten, hob der diensthabende Sergeant am Schalter den Kopf. Die Augen in seinem ausdruckslosen Gesicht begannen zu leuchten.
»Mr. Runcorn will Sie sprechen, Sir. Sofort.«
»So, will er das«, gab Monk mürrisch zurück. »Ich bezweifle, daß er viel Freude daran haben wird, aber er soll seinen Willen kriegen.«
»Er ist in seinem Büro, Sir.«
»Ja, danke. Ist Mr. Evan da?«
»Nein, Sir. War kurz hier, ist aber gleich wieder verschwunden. Wohin, hat er nicht gesagt.«
Monk nahm die Antwort mit einem knappen Nicken zur Kenntnis und begab sich zu Runcorns Büro. Er klopfte an, wartete auf das »Herein« und trat ein. Runcorn saß hinter seinem breiten, auf Hochglanz polierten Schreibtisch, zwei qualitativ exquisite Briefumschläge sowie ein halbes Dutzend beschriebene, in der Mitte zusammengefaltete Bögen ebensolchen Briefpapiers neben sich. Der Rest der Tischfläche war mit vier oder fünf Zeitungen bedeckt, teils in aufgeschlagenem, teils in jungfräulichem Zustand.
Mit schmalen, glitzernden Augen und finsterer Miene starrte er Monk entgegen.
»Na endlich! Schon einen Blick in die Zeitungen geworfen? Mitgekriegt, was man über uns schreibt?« Er hielt ein Exemplar in die Höhe, so daß Monk die fettgedruckte Überschrift lesen konnte, die die Hälfte des Titelblatts einnahm: QUEEN-ANNE- STREET-KILLER
Weitere Kostenlose Bücher