Gefährliche Trauer
schneidenden Novemberwind zu tun hatte, der heulend durch die Gassen pfiff und an einer alten Zeitung im Rinnstein zerrte.
Er klopfte energisch an die Tür und nannte sofort seinen Namen und seinen Beruf, als ihm ein dürrer Mann mit glattem, dunklem Haar und traurigem Gesicht öffnete, damit auch nicht der leiseste Zweifel am Grund seines Kommens aufkam. Nicht eine Sekunde lang sollte man glauben, er wäre hier, um Zuflucht oder den armseligen Rückhalt zu erbitten, für den solche Einrichtungen angeblich gebaut worden waren.
»Kommen Se lieber mal rein. Ich frag den Leiter, ob er Zeit für Se hat«, sagte der Pförtner gleichgültig. »Aber wenn Se Hilfe brauchen, sollten Se besser nicht lügen«, fügte er im Gehen hinzu.
Monk wollte ihn gerade anfahren, daß er das keineswegs nötig hatte, als sein Blick zufällig auf einen der »Beklagenswerten in Gottes freier Natur« fiel. Dieser Mann hatte Hilfe nötig, war durch die Umstände gezwungen, in einem dieser finsteren Etablissements um Gnade zu winseln, wo man ihm jede Entscheidungsfreiheit, menschliche Würde, Individualität, sogar die eigene Kleidung und damit das persönliche Erscheinungsbild nehmen würde, wo man Brot und Kartoffeln als Mahlzeit servierte, Familien auseinanderriß, Frauen von ihren Ehemännern trennte, Kinder von ihren Eltern, sie in Schlafsälen zusammenpferchte, in Arbeitsanzüge steckte und sie von Tagesanbruch bis Abenddämmerung schwer schuften ließ. Wie verzweifelt mußte ein menschliches Wesen sein, um an einem solchen Ort um Aufnahme zu bitten. Aber wer ließ seine Frau oder seine Kinder schon freiwillig zugrunde gehen?
Die hitzige Antwort blieb ihm in der Kehle stecken. Er begnügte sich damit, dem Pförtner zu danken und ihm gehorsam in die Halle zu folgen.
Es verstrich fast eine Viertelstunde, bis der Leiter des Armenhauses in dem kleinen Raum erschien, dessen einziges Fenster auf den Innenhof hinausging, wo unzählige mit Hammer und Meißel bewaffnete Männer zwischen Bergen von Steinen auf dem Boden hockten.
Er hatte graues, angeklatschtes Haar, einen teigigen Teint und zwei verblüffend dunkle Augen, die in tiefen Höhlen lagen, als ob er nie genug Schlaf bekäme.
»Was nicht in Ordnung, Inspektor?« fragte er müde. »Sie glauben doch nicht, daß wir hier Verbrecher beherbergen? Müßte schon ein ganz armer Hund sein, wer hier Asyl sucht - und als Halunke 'n ziemlicher Versager.«
»Ich bin auf der Suche nach einer Frau, die wahrscheinlich einer Vergewaltigung zum Opfer gefallen ist«, erwiderte Monk düster. »Ich würde gern ihre Version der Geschichte hören.«
»Wohl neu in dem Beruf, wie?« erkundigte sich der Armenhausleiter skeptisch. Er musterte Monk von Kopf bis Fuß, sah die leichten Falten in seinem Gesicht, die Anzeichen für Reife, Selbstvertrauen und die momentane Verärgerung und beantwortete die Frage selbst. »Nee. Aber was glauben Sie, soll das bringen? Sie werden doch auf das Wort einer mittellosen Frau hin keine Anklage erheben, oder?«
»Nein. Ich brauche nur erhärtendes Beweismaterial.«
»Was?«
»Eine Bestätigung dessen, was wir bereits wissen beziehungsweise vermuten.«
»Wie soll sie denn heißen?«
»Martha Rivett. Müßte vor circa zwei Jahren gekommen sein schwanger. Sofern sie es nicht verloren hat, ist das Kind etwa sieben Monate später geboren worden.«
»Martha Rivett… Martha Rivett - ein großes, ganz passables Ding um die Neunzehn oder Zwanzig?«
»Siebzehn, und wie sie aussah, kann ich leider nicht sagen. Aber sie war Stubenmädchen, also vermutlich recht hübsch und wahrscheinlich auch groß.«
»Wir haben hier eine Martha in dem Alter - mit Baby. Ihr Nachname fällt mir gerade nicht ein, aber ich kann sie mal holen lassen. Am besten, Sie fragen sie selbst.«
»Könnten Sie mich nicht zu ihr bringen?« fragte Monk rasch.
»Ich will verhindern, daß sie sich…« Er brach ab, unschlüssig, wie er sich ausdrücken sollte.
Der Mann lächelte schief. »Weg von den andern Frauen wird ihr wahrscheinlich eher nach Reden zumute sein. Aber bitte, ganz wie Sie wollen.«
Monk war froh über seinen Einwand. Er hatte nicht das geringste Verlangen, mehr als unbedingt nötig von dem Armenhaus zu Gesicht zu bekommen. Der Geruch nach verkochtem Kohl, Kehricht und verstopften Sickergruben hatte sich bereits in seiner Nase festgesetzt und erinnerte ihn ständig an das abgrundtiefe Elend in allernächster Nähe.
»Nein, Sie haben sicher recht. Danke.«
Der Armenhausleiter
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