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Gefährliche Trauer

Gefährliche Trauer

Titel: Gefährliche Trauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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aber unauffällig anzog, zumindest bis man einen genaueren Blick auf ihn warf. Dann erst bemerkte man die ausgezeichnete Qualität und hervorragende Verarbeitung seiner Kleidung, die stets perfekt paßte. Sein Haar war blond, das schmale Gesicht wurde von einer langen Nase und einem sensiblen, schön geschnittenen Mund beherrscht. Trotzdem erweckte er in erster Linie den Eindruck eines Menschen, der seine Gefühle völlig unter Kontrolle hatte und über einen brillanten, scharfsinnigen Verstand verfügte.
    In seinem Büro war es absolut ruhig. Das strahlendhelle Licht stammte von einem Kronleuchter, der von der Mitte der Stuckdecke herabhing, aber auch bei Tag wäre die Beleuchtung kaum schlechter gewesen, denn es gab drei große Schiebefenster, deren dunkelgrüne Samtvorhänge von einer schlichten Kordel zusammengehalten wurden. Der Schreibtisch war selbstverständlich aus feinstem Mahagoni, die Stühle wirkten unglaublich bequem.
    Er führte sie hinein und forderte sie auf, Platz zu nehmen. Anfangs war Hester nur wenig beeindruckt. Für ihren Geschmack kümmerte er sich zu sehr um ihr leibliches Wohl, anstatt sich auf den Grund ihres Kommens zu konzentrieren, doch dieser Irrtum wurde sofort korrigiert, als er über die Gerichtsverhandlung zu sprechen begann. Schon seiner Stimme zu lauschen, war ein reines Vergnügen, aber die Präzision seiner Aussprache war so denkwürdig, daß ihr die einzelnen Silben noch lange Zeit danach in den Ohren klangen.
    »Wir müssen die Zeugenaussage besprechen, die Sie machen werden, Miss Latterly«, begann er. »Verstehen Sie, es geht nicht einfach darum, Ihr Wissen weiterzugeben und den Zeugenstand wieder zu verlassen.«
    Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht, und als sie es jetzt tat, stellte sich heraus, daß ihr genau das vorgeschwebt war. Sie wollte zunächst leugnen, erkannte jedoch an seinem Gesicht, daß er ihre Gedanken gelesen hatte, und sah davon ab.
    »Ich wollte Ihre Instruktionen abwarten, Mr. Rathbone. Ich habe die Angelegenheit bisher weder in die eine noch in die andere Richtung beurteilt.«
    Seine Lippen verzogen sich zu einem hinreißenden Lächeln.
    »Ausgezeichnet.« Er lehnte sich gegen die Schreibtischkante und betrachtete sie eindringlich. »Zuerst stelle ich Ihnen Fragen zur Sache. Sie sind meine Zeugin, verstehen Sie? Ich werde Sie bitten, dem Gericht von Ihrer familiären Tragödie zu erzählen, ohne Umschweife, in Ihren eigenen Worten. Ich möchte nicht, daß Sie irgend etwas sagen, das Sie nicht selbst erlebt haben. Tun Sie es doch, wird der Richter die Geschworenen anweisen, es wegen Unerheblichkeit zu streichen, und je öfter er Sie unterbricht und Ihre Worte als unzulässig kategorisiert, desto weniger Glauben werden die Geschworenen dem Rest der Aussage schenken. Sie könnten zu leicht vergessen, was nun was war.«
    »Ja, ich verstehe«, versicherte Hester. »Ich werde nur sagen, was ich aus eigener Erfahrung weiß.«
    »Sie könnten leicht in Versuchung geraten, Miss Latterly. Schließlich geht es um eine Angelegenheit, bei der Sie gefühlsmäßig stark betroffen sind.« Sein strahlender, humorvoller Blick bohrte sich in ihren. »Vielleicht wird es schwieriger, als Sie denken.«
    »Wie groß sind die Chancen, daß Menard Grey nicht hängen muß?« fragte sie ernst, wobei sie absichtlich das krasseste Wort wählte. Rathbone war kein Mensch, mit dem man Beschönigungen austauschte.
    »Wir werden unser Menschenmöglichstes versuchen«, gab er zurück. Das Strahlen verschwand aus seinem Gesicht. »Aber ich bin nicht sicher, ob wir Erfolg haben.«
    »Und was wäre das, ein Erfolg, Mr. Rathbone?«
    »Ein Erfolg wäre die Deportation nach Australien, wo er die Möglichkeit hätte, sich vielleicht ein neues Leben einzurichten beizeiten. Vor drei Jahren wurde der Großteil der Deportationen jedoch eingestellt, ausgenommen in Fällen, wo eine Haftstrafe von mehr als vierzehn Jahren verhängt wurde -«
    »Und was wäre ein Mißerfolg?« hakte Hester kaum hörbar nach. »Der Strick?«
    »Nein.« Er beugte sich ein wenig vor. »Der Rest des Lebens an einem Ort wie Coldbath Fields. In dem Fall würde ich persönlich den Strick vorziehen.«
    Sie schwieg. Dazu gab es nichts zu sagen. Callandra, die in einer Ecke saß, war wie erstarrt.
    »Was wäre also das beste, Mr. Rathbone?« fragte Hester nach einer Weile. »Bitte, ich brauche Ihren Rat.«
    »Beschränken Sie sich darauf, meine Fragen zu beantworten, Miss Latterly. Halten Sie sich ansonsten absolut zurück,

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