Gefährliche Trauer
auch wenn Sie glauben, etwas Hilfreiches zu sagen zu haben. Wir werden jetzt alles miteinander durchgehen, damit ich beurteilen kann, was unserer Sache dient und was ihr - aus Sicht der Geschworenen - schaden könnte. Diese Leute haben nichts von dem Ganzen erlebt, vieles, was Ihnen vollkommen klar ist, kann ihnen äußerst obskur erscheinen.« Er verzog die sensiblen Mundwinkel in stiller und doch sonderbarer freudloser Belustigung zu einem leichten Lächeln. »Außerdem haben sie vielleicht ein völlig anderes Bild vom Krieg als Sie. Gut möglich, daß Offiziere, besonders kriegsversehrte, ihrer Meinung nach wahre Helden sind. Und wenn wir zu plump vorgehen, um sie vom Gegenteil zu überzeugen, sträuben sie sich eventuell massiver gegen ein radikales Zerschlagen ihrer Ideale, als uns lieb sein kann. Vielleicht brauchen sie diese Art Selbsttäuschung genauso wie Lady Fabia Grey.«
Hester fühlte sich unvermittelt in Fabia Grey's Schlafzimmer in Shelburne Hall zurückversetzt. Sie sah ihr zerfurchtes, um Jahre gealtertes Gesicht vor sich, als die sorgsam gehüteten Schätze eines halben Menschenlebens mit einem einzigen Streich vor ihren Augen vernichtet und ausgelöscht wurden.
»Verlustgefühle sind sehr oft von Haß begleitet.« Rathbone klang, als hätte er ihre Gefühle ebenso heftig durchlebt wie sie selbst. »Irgendwem müssen wir schließlich die Schuld geben, wenn wir unseren Schmerz nur anhand von Wut bewältigen können, was wesentlich einfacher ist - wenigstens im ersten Moment.«
Instinktiv hob Hester den Kopf und schaute ihn an. Sein durchdringender, zugleich beruhigender und verwirrender Blick brachte sie etwas aus der Fassung. Diesen Mann würde sie nie anlügen können. Gott sei Dank brauchte sie es auch nicht!
»Nicht nötig, mir das zu erklären, Mr. Rathbone«, erwiderte sie freundlich. »Ich bin jetzt lange genug wieder hier, um zu begreifen daß den meisten Leuten ihre Illusionen lieber sind als die Fetzen und Bruchstücke der Wahrheit, die ich ihnen zu bieten habe. Das Häßliche und Unschöne muß einen Anflug von Heldentum haben, sonst ist es nicht erträglich. Tag für Tag zu leiden, ohne zu jammern, seine Pflicht zu erfüllen, wenn es gar keinen Sinn mehr zu haben scheint, zu lachen, wenn einem nach Weinen zumute ist - all das wäre nicht möglich. Ich glaube nicht, daß man so etwas mit Worten verständlich machen kann. Nur wer dabei war, kann es nachempfinden.«
Sein plötzliches Lächeln war wie ein Lichtstrahl an einem verregneten Tag.
»Sie sind doch klüger, als man mich vermuten ließ, Miss Latterly. Ich beginne zu hoffen.«
Hester stellte verärgert fest, daß sie rot wurde. Gleich anschließend wollte sie Callandra zur Rede stellen und sie fragen, was sie ihm erzählt hatte. Aber wahrscheinlich war Monk, dieser elende Polizist, derjenige, dem sie die verzerrte Darstellung ihres Charakters zu verdanken hatte. Trotz der guten Zusammenarbeit und der wenigen Momente völligen Einvernehmens hatten sie die meiste Zeit gestritten; er machte bestimmt keinen Hehl daraus, daß er sie für herrisch, aufdringlich und wenig ansprechend hielt.
Nicht, daß sie ihm ihre Meinung über sein Benehmen und seinen Charakter nicht zuerst an den Kopf geworfen hätte!
Rathbone ging sämtliche Fragen durch, die er ihr zu stellen beabsichtigte, die Argumente, die der Staatsanwalt vorbringen würde, sowie etwaige Behauptungen, anhand derer er versuchen könnte, ihr eine Falle zu stellen. Er warnte sie noch einmal davor, sich gefühlsmäßig zu stark zu engagieren, damit der Staatsanwalt nicht auf Befangenheit oder Unglaubwürdigkeit plädieren konnte.
Als er sie um Viertel vor acht hinausbegleitete, war sie so müde, daß ihr das Denken schwerfiel. Sie spürte ihren Rücken wieder und hatte erneut das Gefühl, ihre Füße steckten in Schraubstöcken. Die Vorstellung, für Menard Grey auszusagen, fiel ihr nicht mehr so leicht wie im ersten Moment, als sie mit großem Enthusiasmus zugestimmt hatte.
»Er hat etwas Einschüchterndes, finden Sie nicht?« stellte Callandra auf dem Weg zu einem wohlverdienten Dinner fest.
»Hoffen wir, daß er die Leute vor Gericht genauso einschüchtern kann«, erwiderte Hester, während sie unbehaglich mit den Füßen zappelte. »Leicht zu täuschen ist er wohl nicht.« Das war eine solche Untertreibung, daß sie sich plötzlich ziemlich dumm vorkam und den Kopf abwandte, damit der Schein der Wagenlaterne nicht mehr voll auf ihr Gesicht fiel.
Callandra lachte; es war
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