Gefährliche Trauer
Betreffenden am liebsten eine Ohrfeige verpaßt.
War Hester da? Wartete sie genauso gespannt wie er?
Er sah zu Menard Grey hinüber, der sich erhoben hatte und in der Menschenmasse um ihn herum so verloren wirkte wie ein winziges Eiland im Ozean. Jeder in diesem bis zur Decke getäfelten, überwölbten Saal wollte Zeuge sein, wie über ihn entschieden wurde, über sein Leben - oder seinen Tod. Rathbone, der neben ihm stand, schmaler und mindestens zehn Zentimeter kleiner als er, streckte eine Hand aus, um ihn zu stützen, ihn vielleicht auch nur spüren zu lassen, daß wenigstens einer wußte, wie ihm zumute war.
»Menard Grey«, begann der Richter mit trauriger, mitleidiger und zugleich enttäuschter Miene, »dieses Gericht hat Sie des Mordes für schuldig befunden. Sie selbst haben klugerweise auf nichts anderes plädiert, was Ihnen positiv vermerkt werden kann. Ihr Rechtsbeistand hat sich hauptsächlich auf die große Provokation berufen, der Sie ausgesetzt waren. Das Gericht kann dies nicht als Entschuldigung gelten lassen. Wenn jeder, der sich ausgenutzt und betrogen fühlt, zu Gewalt greifen würde, stünde die zivilisierte Welt bald vor dem Bankrott.«
Ein empörtes Zischen wogte durch den Saal.
»Wie dem auch sei«, fuhr der Richter in schärferem Ton fort, »die Tatsache, daß großes Unrecht geschehen ist und Sie nach Mitteln und Wegen gesucht haben, in Zukunft zu verhindern, daß unschuldigen Menschen weiteres Leid zugefügt wird, diese im Rahmen des Gesetzes nicht gefunden und aus diesem Grund das Verbrechen begangen haben, wurde bei der Festlegung des Strafmaßes berücksichtigt. Sie sind ein fehlgeleiteter, nach meinem Dafürhalten jedoch kein bösartiger Mensch. Ich verurteile Sie hiermit zur Deportation nach Australien, wo Sie für die Dauer von fünfundzwanzig Jahren in der Kronkolonie Westaustralien zu verweilen haben.« Er hob seinen Hammer, um zu bekunden, daß die Angelegenheit für ihn damit erledigt war, doch das Klopfen ging im allgemeinen Applaus und Füßestampfen unter, als die Presseleute davonstürzten, um die Neuigkeit in ihre Zentralen zu bringen.
Monk erhielt keine Gelegenheit, mit Hester zu sprechen, sah sie aber kurz über die Köpfe der Menge hinweg. Ihre Augen glänzten, die Müdigkeit in ihren Zügen, die durch die strenge Frisur und die schlichte Kleidung noch betont wurde, wich strahlendem Triumph und unbeschreiblicher Erleichterung. In diesem Moment war sie fast schön. Ihre Blicke begegneten sich in völliger Übereinstimmung, dann wurde Hester von der Masse davongetragen, und er verlor sie aus den Augen.
Er erhaschte auch einen flüchtigen Blick auf Fabia Grey, die sich stocksteif, mit kalkweißem, haßerfülltem Gesicht auf den Ausgang zubewegte. Sie ließ sich weder von ihrer Schwiegertochter noch von ihrem ältesten und einzig übriggebliebenen Sohn stützen, der mit hocherhobenem Kopf und einem schwachen, kaum sichtbaren Lächeln auf den Lippen hinter ihr her marschierte. Callandra Daviot steckte vermutlich bei Rathbone. Sie war es gewesen, nicht etwa Menards Blutsverwandtschaft -, die den Anwalt mit seiner Verteidigung beauftragt hatte und für die Kosten aufkam.
Rathbone selbst entdeckte er nicht, konnte sich das Hochgefühl des Mannes aber lebhaft vorstellen. Obwohl er sich nichts sehnlicher gewünscht und hart dafür gearbeitet hatte, daß dieser Fall so ausging, paßte Monk Rathbones Erfolg absolut nicht. Mißmutig dachte er an den selbstgefälligen Gesichtsausdruck, den der Anwalt nach diesem Sieg haben mußte.
Er verließ Old Bailey und begab sich auf direktem Wege ins Polizeirevier, um Runcorn über seine bisherigen Fortschritte bezüglich des Mordes in der Queen Anne Street zu unterrichten.
Runcorn warf einen Blick auf Monks ausgesprochen flottes Jackett, woraufhin sich seine Augen verengten und es in seinen hageren Wangen unwillig zuckte.
»Ich warte schon zwei Tage auf Ihr Erscheinen«, sagte er, kaum daß Monk zur Tür herein war. »Ich gehe davon aus, daß Sie viel zu tun haben, aber ich will über jeden einzelnen Fortschritt der Ermittlungen informiert werden - falls es überhaupt welche gibt! Haben Sie schon einen Blick in die Zeitungen geworfen? Sir Basil Moidore ist ein sehr einflußreicher Mann. Sie scheinen sich mal wieder nicht darüber im klaren zu sein, mit wem Sie es zu tun haben! Er hat Freunde in den höchsten Kreisen - Kabinettsminister, Botschafter, sogar Prinzen!«
»Und obendrein Feinde im eigenen Haus«, ergänzte Monk in
Weitere Kostenlose Bücher