Gefährliche Trauer
plötzliche Erkenntnis, daß jemand aus ihrer Familie den Mord begangen hatte.
Sie war eine bemerkenswerte Frau mit offensichtlich ehrlichem Charakter, wofür Monk nur größten Respekt haben konnte. Es verletzte seine Gefühle - und seinen Stolz -, hinsichtlich des Klassenunterschieds zwischen ihnen solch einen untergeordneten Rang zu haben, daß er mit keinerlei Trost, lediglich mit steifen Höflichkeitsfloskeln aufwarten durfte, denen jede persönliche Note fehlte.
»Sie haben mein aufrichtiges Mitgefühl, Ma'am«, sagte er lahm. »Ich wünschte, ich müßte der Angelegenheit nicht weiter nachgehen…« Darauf ließ er es beruhen. Sie verstand ihn auch ohne weitschweifige Erklärungen.
Lady Moidore nahm die Hände vom Gesicht und erwiderte kaum hörbar: »Schon gut.«
»Guten Tag, Lady Moidore.«
»Guten Tag, Mr. Monk. Percival, begleiten Sie Mr. Monk bitte hinaus.«
Der Lakai erschien wieder auf der Bildfläche, um ihn zu seiner Überraschung zum Haupteingang und die Stufen hinab in die Queen Anne Street zu führen. Er empfand eine Mischung aus Mitleid, geistiger Wachheit und wachsendem Interesse - ein Gefühl, das ihm vertraut vorkam, er jedoch keinem speziellen Ereignis zuordnen konnte. So etwas mußte er schon hundertmal getan haben: an den Ort eines Verbrechens kommen und dann Leben und Schicksal der Betroffenen Stück für Stück an die Oberfläche kehren.
Er umrundete das Haus, um zum rückwärtigen Teil zu gelangen, wo Evan hoffentlich irgendwo zu finden war. Er hatte ihm den Auftrag erteilt, mit den Dienstboten zu sprechen und sich oberflächlich nach dem Messer umzusehen. Da sich der Mörder nach wie vor im Haus aufhielt, befand sich die Tatwaffe wahrscheinlich noch dort, es sei denn, er hatte sie in der Zwischenzeit verschwinden lassen. Allerdings gab es in jeder Küche haufenweise Messer entsprechender Größe, von denen wiederum einige als Tranchiermesser benutzt wurden. Er wäre ein Kinderspiel gewesen, es abzuwischen und zurückzulegen. Selbst Blutflecken am Übergang vom Griff zur Schneide hätten nicht viel bedeutet.
In dem Moment kam Evan die Kellertreppe hoch. Vielleicht hatte ihn die Kunde von Monks Aufbruch ereilt und er sich zur selben Zeit zum Gehen entschlossen. Monk studierte Evans Gesicht, während der mit federndem Schritt und hocherhobenem Haupt die Stufen hinaufsprang.
»Und?«
»Hab P. C. Lawley dazu gebracht, mir zu helfen. Wir haben das ganze Haus auf den Kopf gestellt, insbesondere die Dienstbotenbehausungen, aber keine Spur von dem Schmuck. Nicht, daß ich wirklich damit gerechnet hätte, was zu finden.«
Monk ebenfalls nicht. Raub hatte er von Anfang an nicht für das Motiv gehalten. Der Schmuck war höchstwahrscheinlich den Abort hinuntergespült, die silberne Vase woanders hingestellt worden. »Was ist mit dem Messer?«
»Die Küche ist voll davon«, sagte Evan, während er in Monks Schritt einfiel. »Richtig gemein aussehende Dinger! Laut Köchin fehlt keins. Falls eins von ihnen benutzt wurde, ist es zurückgelegt worden, ich hab jedenfalls nichts gefunden. Glauben Sie tatsächlich, es war einer der Dienstboten? Aber warum?« Er verzog das Gesicht zu einer skeptischen Grimasse.
»Eine eifersüchtige Zofe? Ein Lakai auf Freiersfüßen?«
Monk schnaubte verächtlich. »Eher ein Geheimnis, dem sie auf die Spur gekommen ist.« Und er erzählte Evan, was er herausgefunden hatte.
Gegen halb drei war Monk in Old Bailey. Nach einer weiteren halben Stunde hatte er es dank diverser Bestechungsmanöver und, wo das nichts half, unterschwelliger Drohungen endlich bis in den Gerichtssaal geschafft, in dem Menard Greys Verhandlung dem Höhepunkt entgegenging. Rathbone hielt soeben das Schlußplädoyer. Es entpuppte sich nicht als die pathetische Beschwörung, mit der Monk gerechnet hatte - schließlich war ihm nicht entgangen, daß es sich bei diesem Mann um einen Exhibitionisten handelte, einen eitlen, pedantischen Mensch, der in erster Linie ein Schauspieler war -, sondern als eine ruhige, präzis formulierte und in sich stimmige Zusammenfassung. Er unternahm nicht einen einzigen Versuch, die Geschworenen einzulullen oder an ihre Gefühle zu appellieren. Entweder hatte er aufgegeben oder zu guter Letzt doch noch eingesehen, daß es nur ein Urteil geben konnte und der Richter die richtige Adresse war, wenn er irgendwo Mitleid erwecken wollte.
Bei dem Opfer handelte es sich um einen Gentleman aus allerbestem, adligem Hause - aber das war Menard Grey auch. Er hatte die Bürde
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