Gefährliche Trauer
den Weg und stellen sich Mrs. Moidore vor. Vielleicht können Sie gleich etwas für sie tun - das bedauernswerte Geschöpf.« Sie strich mit energischen Bewegungen ihre Schürze glatt, wodurch ihr Schlüsselbund geräuschvoll zu klappern begann. »Als ob es nicht genug wäre, eine Tochter zu verlieren. Muß da auch noch die Polizei im ganzen Haus rumschleichen und den Leuten lästige Fragen stellen? Wie soll das mit dieser Welt bloß enden? Wenn sie gleich von Anfang an ihre Arbeit getan hätten, wäre das alles gar nicht erst geschehen.«
Hester verkniff sich die Bemerkung, es wäre ein wenig vermessen, von der Polizei zu erwarten, daß sie einen Mord im Familienkreis verhindere.
»Vielen Dank für Ihre Einweisung, Mrs. Willis«, sagte sie diplomatisch und verschwand in Richtung Treppe, um Mrs. Moidore gegenüberzutreten.
Hester klopfte an ihre Schlafzimmertür, erhielt keine Antwort und trat trotzdem ein. Sie fand sich in einem entzückenden, ausgesprochen femininen Raum wieder; überall geblümter Brokat und ovale, gerahmte Fotografien sowie drei zierliche, bequeme Ankleidestühle, die hübsch und praktisch aussahen. Durch die großen Fenster strömte kaltes Sonnenlicht herein.
Beatrice lag mit einem Satinneglige bekleidet auf dem Bett, die Knöchel überkreuzt, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und starrte an die Decke. Von Hester nahm sie keinerlei Notiz.
Als Lazarettschwester war Hester zwar in erster Linie den Umgang mit schwerverwundeten oder todkranken Männern gewöhnt hatte aber auch ein wenig Erfahrung mit Schock und der tiefen Depression, die gewöhnlich der Amputation eines Körperglieds folgten. Sie kannte das Gefühl völliger Hilflosigkeit, das jede andere Emotion überlagerte. In Beatrice Moidores Verhalten glaubte sie Angst zu erkennen. Sie hatte die erstarrte Haltung eines Tieres, das sich nicht zu rühren traut, um nicht auf sich aufmerksam zu machen, und gleichzeitig nicht weiß, in welche Richtung es davonlaufen soll.
»Lady Moidore«, sagte sie ruhig.
Beatrice registrierte, daß ihr diese Stimme fremd war. Sie war bestimmter, nicht so zaghaft wie die einer Magd. Langsam drehte sie den Kopf auf die Seite, um die Quelle zu identifizieren.
»Mein Name ist Hester Latterly, Lady Moidore. Ich bin Krankenschwester und werde mich um Sie kümmern, bis es Ihnen wieder besser geht.«
Beatrice richtete sich langsam auf und stützte sich auf den Ellbogen ab. »Eine Krankenschwester?« fragte sie mit schwachem, leicht verzerrtem Lächeln. »Ich bin nicht…« Sie änderte plötzlich ihre Meinung und legte sich wieder hin. »In meiner Familie ist ein Mord geschehen. Das ist keine Krankheit.«
Araminta hatte ihr also nichts von dem Arrangement erzählt, geschweige denn sie um ihr Einverständnis gebeten - oder hatte Beatrice es einfach vergessen?
»Nein«, sagte Hester laut. »Ich würde es eher als eine Verletzung bezeichnen. Da ich aber den Großteil meiner beruflichen Erfahrung auf der Krim gesammelt habe, bin ich an Wunden und die damit verbundenen Leiden gewöhnt. Manchmal dauert es eine Zeit, bis man überhaupt den Wunsch verspürt, wieder auf die Beine zu kommen.«
»Auf der Krim? Wie praktisch.«
Hester staunte. Was für ein seltsamer Kommentar. Sie betrachtete Beatrices empfindsames, intelligentes Gesicht mit den großen Augen, der vorspringenden Nase und dem zarten Mund genauer. Sie war von dem Standardklischee der klassischen Schönheit weit entfernt, hatte auch nicht diesen trägen, schmollenden Blick, der momentan so gefragt war. Für den Geschmack der meisten Männer, die sich vermutlich ein zahmeres Wesen wünschten, machte sie einen zu energischen Eindruck. Dennoch strafte ihr gegenwärtiger Anblick den Charakter Lügen, der in ihren Zügen zum Ausdruck kam.
»Ja«, stimmte Hester zu. »Und jetzt, wo meine Eltern tot sind und nicht mehr für mich sorgen können, bleibt mir nichts anderes übrig, als weiterhin praktisch tätig zu sein.«
Beatrice richtete sich wieder auf. »Es ist bestimmt sehr befriedigend, wenn man sich nützlich machen kann. Meine Kinder sind mittlerweile erwachsen und selbst verheiratet. Wir empfangen eine Menge Gäste - zumindest war das bis vor kurzem noch so -, aber meine Tochter Araminta ist äußerst geschickt, was das Zusammenstellen einer vielversprechenden Gästeliste angeht, um meine Köchin beneidet mich halb London, und mein Butler weiß, wo man notfalls eine zusätzliche Hilfskraft herbekommt. Meine gesamte Dienerschaft ist hervorragend
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