Gefährliche Trauer
anständigsten Männer, die ich gepflegt habe, war Kriegsberichterstatter bei einer der renommiertesten Zeitungen Londons. Als es ihm so schlecht ging, daß er selbst nicht mehr schreiben konnte, hat er mir die Texte diktiert, und ich habe sie in seinem Namen weitergeleitet.«
»Gütiger Gott! Ich muß sagen, Sie beeindrucken mich, Miss Latterly«, entfuhr es Cyprian. »Wenn Sie einmal etwas Zeit übrig haben, würde ich gern Ihre Meinung zu dem hören, was Sie gesehen haben. Es gibt zwar Gerüchte über unbeschreibliche Inkompetenz und eine entsetzlich große Anzahl unnötiger Todesopfer, aber andere behaupten, derlei Geschichten würden nur von Nörglern und Unruhestiftern verbreitet, die auf Kosten anderer ihrer eigenen Sache dienen wollen.«
»Ja, das glaube ich gern«, bestätigte Hester und legte Feder und Papier zur Seite. Er machte einen so betroffenen Eindruck, daß es ein Vergnügen war, ihm sowohl ihre Beobachtungen als auch die Schlüsse zu schildern, die sie daraus gezogen hatte.
Cyprian hörte konzentriert zu. Die wenigen Fragen, die er einwarf, waren scharfsinnig und wurden auf eine mitfühlende, aber auch trocken humorvolle Art gestellt, die ihr gut gefiel. Hatte er sich einmal dem Einfluß seiner Familie entzogen und es geschafft, den Tod seiner Schwester samt allem damit verbundenen Mißtrauen und Leid wenigstens für eine Stunde zu vergessen, entpuppte er sich als Mensch mit eigenen, teils recht innovativen Ideen bezüglich der Gesellschaftsstruktur und dem Verhältnis zwischen den Machthabern und ihren Untertanen.
Sie waren tief ins Gespräch versunken, und die Schatten draußen wurden bereits länger, als Romola unerwartet auftauchte. Obwohl sie ihr Eintreten beide bemerkt hatten, dauerte es ein paar Minuten, bis sie von ihrem Thema abließen, um sich Cyprians Frau zuzuwenden.
»Papa möchte dich sprechen«, sagte sie stirnrunzelnd. »Er erwartet dich im Salon.«
Cyprian stand widerwillig auf und entschuldigte sich bei Hester, als wäre sie eine geschätzte Freundin, kein halber Haussklave.
Romola musterte Hester mit fassungsloser, beunruhigter Miene.
»Nun, Miss Latterly, ich möchte weder den Eindruck erwecken, Sie kritisieren zu wollen, noch möchte ich einen Rat erteilen, wo keiner verlangt wird - aber falls Sie einmal einen Ehemann haben möchten, und ich bin sicher, als normal empfindende Frau tun Sie das, sollten Sie besser lernen, diesen intellektuellen, streitlustigen Zug an Ihrem Charakter zu unterdrücken. Männer finden so etwas nicht attraktiv, im Gegenteil - es bereitet ihnen Unbehagen. Sie haben nicht das Gefühl, daß ihnen die entsprechende Hochachtung entgegengebracht wird, und können sich nicht mehr entspannen.
Man darf auf keinen Fall eigensinnig erscheinen! Das wäre verhängnisvoll.«
Geschickt verbannte sie eine entflohene Haarsträhne wieder an ihren ursprünglichen Platz.
»Ich kann mich noch gut an die Worte meiner Mutter erinnern, als ich ein junges Mädchen war: Es gehört sich nicht für eine Frau, sich über etwas aufzuregen. Die meisten Männer hassen Aufregung und Unruhe und alles andere, was von den typischen weiblichen Eigenschaften abweicht. Eine Frau ist heiter und gelassen, zuverlässig, niemals vulgär oder gemein, übt keinerlei Kritik - es sei denn, es geht um Schlampigkeit oder Unmoral - und wagt es vor allem nicht, einem Mann zu widersprechen, selbst wenn sie sich im Recht glaubt. Lernen Sie einen Haushalt zu führen, sich gut anzuziehen, würdevoll und charmant aufzutreten, jedes Mitglied der Gesellschaft korrekt anzusprechen, zu sticken, ein wenig zu malen oder zu zeichnen und so gut Sie können zu musizieren, speziell zu singen, falls Sie Talent dazu haben sollten, verfeinern Sie Ihre Tischmanieren, Ihre Handschrift, Ihren Schreibstil - und lernen Sie vor allem zu gehorchen und nie die Beherrschung zu verlieren, egal wie sehr man Sie provoziert.
Wenn Sie all das tun, Miss Latterly, werden Sie sich so gut verheiraten, wie es Ihr Aussehen und Ihre gesellschaftliche Stellung erlauben, Ihren Mann glücklich machen und dadurch selbst Ihr Glück finden.« Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich fürchte, Sie haben noch einen langen Weg vor sich.«
Hester brachte den letzten von Romolas Ratschlägen sogleich zum Einsatz und verlor nicht die Beherrschung, trotz schier unerträglicher Provokation.
»Ich danke Ihnen, Mrs. Moidore«, sagte sie, nachdem sie mehrmals tief durchgeatmet hatte. »Vielleicht ist mir auch beschieden, allein zu
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