Gefährliche Wahrheit - Rice, L: Gefährliche Wahrheit
seine Festung zu locken. Zumindest stand fest, dass er mit Kriminellen zu tun hatte, und es war durchaus möglich, dass er selbst einer war. Aber das Bedauern in seiner Stimme klang aufrichtig. Und er schubste sie nicht aus dem Aufzug und drängte sie in was auch immer hinter dieser Tür wartete. Etwas an seiner Haltung verriet ihr, dass er gewillt war, bis in alle Ewigkeit hier auszuharren und sein kostbares Blut auf den Boden tropfen zu lassen, bis sie bereit war, den Aufzug aus freien Stücken zu verlassen.
Er schwankte leicht, aber es gelang ihm, gleich wieder aufrecht zu stehen. Die Muskeln in seiner Kieferpartie bewegten sich. Dann hörte sie ein leises Ploppen, und als Grace nach unten sah, fiel ein weiterer leuchtend roter Blutstropfen in die kleine Pfütze auf dem Boden.
Oh mein Gott! Er war schwer verwundet, hatte viel Blut verloren. Er konnte kaum noch stehen, auf seiner Stirn standen Schweißtropfen. Und trotzdem war er hier bei ihr und wartete geduldig, bis sie zu einer Entscheidung gekommen war.
Grace war nicht sehr erfahren im Umgang mit anderen Menschen, aber wie viele Introvertierte war sie eine gute Beobachterin. Was sie vor sich sah, waren Geduld und Bedauern, überlagert von Schmerz und Erschöpfung. Weder Grausamkeit noch Wahnsinn.
„Okay“, sagte sie leise. „Dann lassen Sie uns dort hineingehen.“
3
Drake hielt sich nur noch durch pure Willenskraft aufrecht. Das und das beißende, niederschmetternde Schuldgefühl, dass er das Leben dieser schönen Frau vernichtet hatte. Es war kein Zufall, dass seine Angreifer über ihn hergefallen waren, während er draußen vor der Galerie gestanden und Grace beobachtet hatte, und dass sie sie benutzt hatten, um an ihn heranzukommen. Er wusste sogar, wer „sie“ waren. Zweifellos steckte Dmitri Rutskoi hinter alldem.
Rutskoi war in sein Büro spaziert gekommen, in der Erwartung, Drakes rechte Hand zu werden, und hatte es nicht allzu gut aufgenommen, als Drake ihn hinauswerfen ließ. Drake kannte Rutskoi. Er war ein wahrer Soldat. Wenn er es sich zur Aufgabe gemacht hatte, sich an Drake zu rächen, würde er nicht aufgeben, ehe einer von ihnen tot war. Ohne jeden Zweifel hatte er sich mit Drakes direktem Konkurrenten auf dem amerikanischen Doppelkontinent zusammengetan: Enrique Cordero. Drake hatte zwei von Corderos Schlägern wiedererkannt.
Irgendwie hatte Rutskoi von Grace erfahren, was bedeutete, dass Rutskoi und Cordero gewillt waren, sich ihrer zu bedienen, um an ihn heranzukommen.
Dieser Gedanke jagte ihm eine Heidenangst ein. Das war schlimmer als die Wunde in seiner Schulter. Er war schon früher angeschossen worden und wusste, dass die Verletzung unangenehm, aber nicht lebensgefährlich war. Nach ein paar Tagen der Ruhe würde er wieder ganz der Alte sein. Aber der Gedanke, dass Grace seinen Feinden in die Hände fallen könnte, dass sie seinetwegen verstümmelt oder gefoltert oder getötet werden könnte, der trieb ihn in den Wahnsinn.
Es hatte all seiner Willensstärke bedurft, sich zu beherrschen, um Grace die freiwillige Entscheidung zu ermöglichen, sein Reich zu betreten. Er und nur er konnte ihr Sicherheit bieten. Ihr die Wahl zu lassen, war das einzige Geschenk, das er ihr machen konnte, und dabei war es eigentlich gar keines, denn wenn sie sich gesträubt hätte, hätte er sie von seinen Männern gegen ihren Willen hineintragen lassen. Er hätte sich dafür verachtet, aber fraglos hätte er es getan.
Die Alternative – sie gehen zu lassen – war undenkbar. In diesem Augenblick war der einzige sichere Platz auf Erden hier an seiner Seite. An allen anderen Orten gäbe sie nur eine prächtige Zielscheibe ab, mit einem dicken, fetten Kreuz direkt auf ihrer glatten Stirn.
Während dieser Gedankengänge ließ er ihr Gesicht nicht aus den Augen und sorgte dafür, dass nichts davon sich auf dem seinen widerspiegelte.
Sie schwankte ein wenig. Kälte und die Nachwirkungen des Adrenalins ließen sie zittern wie Espenlaub. Die Arme hatte sie um den Leib geschlungen, als ob sie Trost suchte, den sie sich nur selbst geben konnte. Eine intuitive Erkenntnis sagte ihm, dass sie das häufig tat – sich selbst umarmen, weil es sonst niemand tat.
Dies war eins der schockierendsten Dinge, die er über sie wusste: ihre grundlegende Einsamkeit, die für eine Frau mit ihrem Aussehen so ungewöhnlich war. Soweit er hatte feststellen können, war Harold Feinstein ihr engster Freund gewesen, und er war jetzt tot. Sie hatte seinen Kopf explodieren
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