Gefährliche Wahrheit - Rice, L: Gefährliche Wahrheit
Das nutzte man aus, profitierte davon und ging ihnen ansonsten so gut wie nur möglich aus dem Weg. Dieser Grundsatz kam in seinem Leben einem Glaubensbekenntnis am nächsten und hatte ihm immer gute Dienste geleistet.
Seltsam nur, dass diese Art zu denken ihn in letzter Zeit immer so … ungeduldig machte. Unzufrieden. Als ob er das alles hinter sich lassen sollte. Irgendwo anders hingehen sollte. Etwas anderes tun sollte. Jemand anders sein sollte.
Wenn es eine andere Welt gäbe, würde er dorthin auswandern. Aber es gab nur diese eine Welt, voller gieriger, gewaltbereiter Menschen.
Wenn ihn diese Stimmung überkam, was in letzter Zeit immer öfter der Fall war, versuchte er, sich daraus zu befreien. Launen waren ein ausgezeichneter Weg, sich umbringen zu lassen.
Seltsam verdrießlich gestimmt, blickte er wieder auf die Tabellen in seinem Schoß. Sie bezogen sich auf einen Zehn-Millionen-Dollar-Vertrag bezüglich Waffenlieferungen an einen tadschikischen Kriegsherrn; das erste von, wie Drake hoffte, einer ganzen Reihe von Geschäften mit diesem selbst ernannten „General“. Auf dem Herrschaftsgebiet des Generals hatte man vor Kurzem Öl entdeckt – ein gottverdammter See aus Öl unter der kargen, unfruchtbaren Erde –, und der General war geneigt, alles zu kaufen, was nötig war, um an der Macht und dem Öl festzuhalten. Wenn dieses Geschäft glatt über die Bühne ging, wovon auszugehen war, wusste Drake, es würden noch eine Menge ähnlicher Geschäfte vor ihm liegen.
Vor einigen Jahren hätte ihm dieser Gedanke zumindest ein gewisses Maß an Befriedigung verschafft. Jetzt spürte er gar nichts. Es war ein Geschäftsabschluss. Er würde seinen Teil der Arbeit erledigen, und es würde ihm noch mehr Geld einbringen. Nichts, was er nicht schon Tausende von Malen zuvor getan hatte.
Er starrte auf die Ausdrucke vor sich und versuchte, ein gewisses Interesse zu entwickeln, bis sie ihm vor den Augen verschwammen. Es tat sich nichts, was beunruhigend war. Noch viel beunruhigender war allerdings das Gefühl der Leere in seiner Brust, als er über seine Gleichgültigkeit nachsann. Es war beängstigend, wenn einem egal war, dass einem alles egal war. Oder es wäre beängstigend gewesen, wenn er nur die Energie aufbringen könnte, so etwas wie Angst zu empfinden.
Unruhig blickte er nach rechts. Dieser Abschnitt der Lexington war voller Buchhandlungen und Kunstgalerien. Ihre Schaufenster waren ansprechender und nicht so gewöhnlich wie die der Boutiquen nur einen Block entfernt, mit ihren absonderlichen, albernen Kleidungsstücken.
Und dann sah er sie.
Gemälde. Eine ganze Wand voll, zusammen mit einigen Aquarellen und Tuschezeichnungen. Allesamt so schön, dass es ihm fast das Herz brach. Allesamt stammten sie offensichtlich von derselben feinen Künstlerhand. Eine Hand, deren Einzigartigkeit sogar er erkannte.
Zwar waren die Autofenster dunkel getönt, aber die Galerie war hell erleuchtet, und jedes Kunstwerk wurde noch dazu von einem eigenen an die Wand montierten Scheinwerfer angestrahlt, sodass Drake sie in aller Ruhe betrachten konnte, während er dort mitten in Manhattan in einem Stau festsaß. Außerdem besaß er die Augen eines Scharfschützen.
Er tat etwas, was er noch nie getan hatte: Er ließ das Fenster nach unten fahren. Dem Chauffeur fiel die Kinnlade herunter. Drakes Blick zuckte zum Rückspiegel. Der Mund des Fahrers schloss sich ruckartig, und sein Gesicht nahm einen teilnahmslosen Ausdruck an.
Augenblicklich füllte sich der Wagen mit dem Gestank der Abgase und dem Hupkonzert eines Staus in Manhattan.
Drake ignorierte beides vollständig. Das Einzige, was zählte, war, dass er jetzt einen besseren Blick auf die Gemälde hatte.
Das Erste von ihnen verschlug ihm glatt den Atem. Ein einfaches Motiv: Eine Frau saß bei Sonnenuntergang einsam an einem langen, leeren Strand. Die Wiedergabe des Meeres, die Farben des Sonnenuntergangs, der Strand – sämtliche Einzelheiten waren technisch perfekt. Aber was dieses Bild mit jeder Pore sehr überzeugend ausstrahlte, war die Einsamkeit der Frau. Es hätte das Porträt des letzten Menschen auf Erden sein können.
Der Mercedes rollte ein paar Zentimeter weiter und kam mit einem Ruck zum Stehen. Er bemerkte es kaum.
Die Bilder waren wie kleine Wunder an einer Wand. Ein glühendes Stillleben mit Wildblumen in einer Kanne und einem geöffneten Taschenbuch auf einem Tisch, als ob gerade jemand aus dem Garten hereingekommen wäre. Ein nachdenklicher Mann,
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