Gefährliche Wahrheit - Rice, L: Gefährliche Wahrheit
billig, weil sie gestohlen waren.
Damit war sein Weg vorgezeichnet.
Später, sobald er es sich leisten konnte, ließ er sich die lange, gezackte weiße Narbe auf der linken Seite seines Gesichts von einem Schönheitschirurgen entfernen. Er war dafür bekannt, sich unauffällig in beinahe jede Umgebung einzufügen, praktisch unsichtbar zu werden, aber eine überaus sichtbare Narbe war ein Merkmal, das ins Auge fiel, etwas, das niemand vergaß. Also musste sie weg.
Der Chirurg war gut, einer der besten. Nachdem er seine Arbeit getan hatte, war von der Narbe nichts mehr zu sehen. Abgesehen von ihm selbst und dem Chirurgen gab es niemanden, der sich an die vor langer Zeit verschwundene Narbe erinnern könnte. Trotzdem sah er sie jetzt vor sich, auf einem Gemälde in einer Galerie in Manhattan, eine halbe Welt weit entfernt und zwei Jahrzehnte später. So verrückt es auch klang: Die Narbe auf dem Bild war dieselbe Narbe, die der Chirurg vor all den Jahren entfernt hatte.
Mit einem Mal löste sich der Stau auf, und der Mercedes rollte ungehindert weiter. Drake drückte auf den Knopf in der Mittelkonsole, der es ihm gestattete, mit dem Fahrer zu kommunizieren.
„Sir?“ Mischas verwunderte Stimme erklang über die Gegensprechanlage. Drake machte nur selten den Mund auf, wenn sie unterwegs waren.
„Biegen Sie an der nächsten Kreuzung rechts ab, und lassen Sie mich nach zwei Blocks aussteigen.“
„ Sir? “ Diesmal klang die Stimme des Fahrers verwirrt.
Drake verließ unterwegs niemals den Wagen. Er bestieg eines seiner zahlreichen Fahrzeuge in der Garage seines Gebäudes und stieg am Zielort wieder aus.
Dann hatte der Fahrer sich wieder gefangen. Drake hatte seinen Männern noch nie etwas zweimal sagen müssen. „Ja, Sir“, erwiderte der Fahrer.
Nachdem er aus dem Wagen ausgestiegen war, ging Drake weiter in dieselbe Richtung wie die Limousine, bis diese im Verkehr verschwand, dann schlüpfte er in ein nahe gelegenes Kaufhaus. Zehn Minuten später hatte er sich vergewissert, dass er nicht verfolgt wurde, und ging zu der Kunstgalerie zurück. Allerdings hatte er zuvor sein Achthundert-Dollar-Jackett von Boss, die Hose von Brioni und den Kaschmirpulli und den Schal von Armani weggeworfen. Stattdessen trug er jetzt einen billigen Parka, ein langärmliges Baumwoll-T-Shirt, Jeans, Wollmütze und Sonnenbrille. Er war so sicher, wie man nur sein konnte, dass ihn niemand beschattete und dass er nicht zu erkennen war.
Die Kunstgalerie erschien ihm nach der Kälte auf der Straße angenehm warm. Drake blieb gleich hinter der Tür stehen und sog tief den Duft nach frischem Tee und jener Mischung kostspieliger Parfüms und Rasierwasser ein, die typisch für die angesagten Läden Manhattans war, gemischt mit den etwas bescheideneren Gerüchen nach Harz und Lösungsmitteln.
Beim Klang der Glocke über der Tür kam ein Mann aus einem Hinterzimmer, lächelnd und mit einer Porzellantasse in der Hand, aus der in weißen Schwaden Dampf aufstieg.
„Hallo und willkommen.“ Der Mann nahm die Tasse von der rechten in die linke Hand und streckte Drake die rechte entgegen. „Mein Name ist Harold Feinstein. Willkommen in der Feinstein Gallery!“
Das Lächeln schien aufrichtig zu sein, nicht das Lächeln eines Verkäufers. Von der Sorte hatte Drake schon zu viele gesehen, von Leuten, die wussten, wer er war und über welche Mittel er verfügte. Alles, was man verkaufen konnte – einschließlich Menschen – , hatte man ihm bereits mit einem Lächeln angeboten.
Aber der Mann, der ihm seine Hand hinstreckte, konnte nicht wissen, wer er war, und ging sicherlich nicht davon aus, dass er reich war – nicht so, wie er gekleidet war.
Drake nahm die angebotene Hand sachte in die seine. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt einem anderen Mann die Hand geschüttelt hatte. Er berührte andere Menschen nur selten, nicht einmal beim Sex. Normalerweise nutzte er die Hände dazu, seinen Oberkörper hoch- und von der Frau entfernt zu halten.
Harold Feinsteins Hand war weich und gepflegt, doch sein Griff war überraschend fest.
„Sehen Sie sich ruhig in aller Ruhe um“, drängte er ihn. „Sie müssen nichts kaufen. Die Kunst bereichert uns alle, ob wir sie besitzen oder nicht.“
Ohne ihn auffällig zu mustern, hatte Feinstein die billigen Kleidungsstücke erfasst und ihn in die Kategorie Schaufensterbummler einsortiert, ohne sich dadurch gestört zu fühlen. Ungewöhnlich für einen Geschäftsmann.
Drakes Blick wanderte
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