Gefährlicher Fremder - Rice, L: Gefährlicher Fremder
landete der Kuss auf ihrer Wange, statt auf ihrem Mund.
Oh mein Gott, es war Sanders – in Fleisch und Blut!
Das letzte Mal hatte sie ihn im Oktober nach einem sehr netten Abendessen bei einem katastrophalen Schlummertrunk auf Greenbriars gesehen. Das Abendessen war wirklich schön gewesen, und aus lauter Dankbarkeit für die kurze Auszeit hatte sie ihn noch auf einen Whiskey reingebeten, nur damit er sich Toby gegenüber dann vollkommen danebenbenahm.
»Was machst du denn hier?«, fragte sie unverblümt.
Er zog gemächlich Jacke und Handschuhe aus und blickte sich im Buchladen um. Caroline hatte keine Ahnung, was er von First Page hielt. Sanders liebte alles, was schneidig und modern war, und das war First Page eindeutig nicht. Er drehte sich um und sah sie an. »Ich dachte, ich komme mal vorbei und sehe nach dir. Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, dir mein Mitgefühl zum Tod deines Bruders auszusprechen.«
Alles klar. Offenbar war er in den vergangenen zwei Monaten wirklich extrem beschäftigt gewesen, dass er nicht mal in der Lage gewesen war, kurz anzurufen oder zu schreiben.
Aber Caroline war von ihren Eltern zu Höflichkeit erzogen worden. Das empfand sie immer öfter als Handicap.
»Danke, Sanders.« Sie zwang sich, ihn noch einmal anzulächeln. »Das ist sehr umsichtig von dir, und ich weiß es zu schätzen.«
Er nickte, offensichtlich unfähig, die Ironie in ihrer Stimme wahrzunehmen. Dann sah er sich noch einmal um, schaute wieder zu ihr und wartete.
Caroline unterdrückte ein Seufzen. Sie konnte noch nicht mal mit der Ausrede kommen, sie wäre gerade sehr beschäftigt. Der Laden war menschenleer, genau wie die gesamte Straße. Es war absolut denkbar, dass die ganze Stadt menschenleer war, weil alle schön zu Hause blieben.
»Setz dich doch bitte, Sanders. Kann ich dir eine Tasse Tee anbieten?« Vielleicht war er ja nur zufällig vorbeigekommen und sehnte sich nach etwas Warmem. Vielleicht würde er bald wieder gehen, wenn sie ihm Tee anbot. Caroline ging nicht davon aus, dass er wegen eines Buchs hierhergekommen war. In all den Jahren, die sie ihn nun kannte, hatte sie nicht einmal erlebt, dass er ein Buch gelesen hatte. Er las die Kritiken, damit er mitreden konnte, aber soweit sie wusste, hatte er noch nie das Buch selbst gelesen.
Er schenkte ihr ein alarmierend strahlendes Lächeln und legte seine Hand auf ihre. »Ich hätte schrecklich gerne eine Tasse Tee, vielen Dank.«
Gott sei Dank hatte sie ihre kleine Secondhand-Mikrowelle im Büro. Nach drei Minuten kam sie mit zwei Bechern Vanilletee zurück, während sie sich insgeheim für ihre unfreundlichen Gedanken schalt.
Es war nicht Sanders’ Schuld, dass er ein Idiot war. Und sein Besuch unterbrach immerhin die Monotonie eines endlosen Nachmittags in ihrem leeren Geschäft, während sie auf Jack wartete, der sie abholen würde. Zudem lenkte es sie ein wenig von ihren endlosen Spekulationen über Jacks Vermögen ab und woher es wohl stammte.
Also beugte sie sich mit aufrichtiger Herzlichkeit vor, reichte ihm die Tasse und war erschrocken, als er sich ihre andere Hand schnappte und einen Kuss darauf drückte. Er hielt sie eine ganze Weile fest.
»Äh, Sanders?«
»Ja, Darling?« Er lächelte sie an.
»Ich brauche meine Hand zurück, sonst kann ich meinen Tee nicht trinken. Bitte.«
»Selbstverständlich.« Er ließ ihre Hand los, lehnte sich zurück und trank seinen Tee, vollkommen ungezwungen. »Und … wie war dein Weihnachtsfest?«
Jetzt werd bloß nicht rot!, ermahnte sich Caroline entschlossen, und es gelang ihr tatsächlich durch reine Willenskraft zu verhindern, dass ihr Gesicht die Farbe reifer Tomaten annahm. Oh Gott, sie konnte Sanders doch unmöglich erzählen, wie ihr Weihnachtsfest gewesen war! Selbst wenn sie sich ihm hätte anvertrauen wollen – was ganz gewiss nicht der Fall war –, hatte sie doch keine Ahnung, ob Jack ihre Affäre, oder wie auch immer man das nennen sollte, laut verkünden wollte. Es Sanders zu erzählen war gleichbedeutend mit einer Anzeige in der Lokalzeitung.
Was sollte sie also sagen? Wenn sie sagte, sie sei nicht allein gewesen, würde er sofort wissen wollen, wer bei ihr gewesen war. Und sie war eine grauenhafte Lügnerin. Was könnte sie sagen, das keine Lüge war, ihm aber auch nicht die ganze Wahrheit verriet?
»Es war … ruhig«, sagte sie schließlich.
Er nickte, als ob das genau die Antwort sei, die er erwartet hatte. »Ich habe dich nicht angerufen, weil ich dachte, du
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