Gefährlicher Fremder - Rice, L: Gefährlicher Fremder
betrachtete – von hinten nach vorne oder das Innere nach außen gekehrt –, Caroline konnte sich einfach nicht erklären, wie Jack wissen konnte, dass das Esszimmer vor sechs Jahren gelb gestrichen gewesen war.
Als ob dies nur die ersten Tropfen wären, die aus einem Riss im Damm drangen, fühlte sie, wie sich die kalten Fluten des Zweifels in ihren Gedanken ausbreiteten. Es machte sie krank. Es war ja nicht nur die Farbe des Esszimmers. Jetzt im Nachhinein merkte sie erst, dass er sich geradezu unheimlich gut in Greenbriars auskannte. In der ersten Nacht hatte sie ihn nicht einmal auf sein Zimmer begleiten dürfen. Er schien zu wissen, wo sie das Werkzeug aufbewahrte, wo der Weinkeller war und sogar – in jener ersten Nacht – wo sich ihr Schlafzimmer befand. Er hatte behauptet, er habe es an ihrem Duft erkannt, aber das klang doch wenig glaubhaft.
Er hatte es gewusst.
Woher hatte er es gewusst?
Und was das Schlimmste war: Wie konnte es sein, dass er ihr in manchen Momenten so bekannt vorkam?
Sie hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, sondern einfach nur an die Decke gestarrt, während sich die Gedanken in ihrem Kopf unaufhörlich und vollkommen nutzlos gedreht hatten, bis die Schwärze vor ihrem Fenster endlich langsam einem Stahlgrau gewichen war.
Jack merkte natürlich, dass etwas nicht stimmte. Es war ihr unmöglich, ihre Unruhe vor diesen aufmerksamen dunklen Augen zu verbergen, und sie hatte ihn mit der Lüge ablenken müssen, sie verspüre einen Anflug von Grippe. Und dann hatte sie ihn davon abhalten müssen, sie mit heißem Tee und siebenhundert Decken wieder ins Bett zu stecken.
Sie hatten sich darüber gestritten, ob sie zur Arbeit gehen könnte oder nicht, aber sie war eisern geblieben und hatte gedroht, sie werde selbst in die Stadt fahren, wenn er es nicht täte. Das hatte ihn zum Schweigen gebracht, und er hatte sie mit aufeinandergepressten Lippen und ohne ein weiteres Wort gefahren.
Fein. Sollte er doch wütend sein. Sein Ärger ließ ihr mehr Raum und Zeit. Sie musste wissen, wer er wirklich war. Noch heute Abend. Sie würden heute Abend eine Unterhaltung führen.
Vielleicht war er ja einfach zu gut, um wahr zu sein. Vielleicht hatte sie sich in ihrer Einsamkeit und Trauer den perfekten Liebhaber zusammenfantasiert. Ihn einfach erfunden.
Die Glocke über der Tür bimmelte. Noch ein Kunde. Sie sollte sich darüber freuen, aber im Moment wollte sie einfach nur mit ihren Gedanken allein sein. Trotzdem, Kunden bedeuteten Geld, und darum setzte sie ein Lächeln auf und ging zur Tür.
»Oh.« Caroline blieb abrupt stehen, als sie Sanders sah. Ein weiterer Mann war noch bei ihm, der ein Stückchen hinter Sanders zurückgeblieben war. »Sanders«, sagte sie kühl. Was wollte er? Sich entschuldigen? Heute war kein guter Tag, um hier aufzukreuzen. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Ich denke, du gehst besser wieder.«
»Ach, Caroline, sei doch nicht so. Du hast ja noch gar nicht gehört, was ich zu sagen habe.«
Etwas war mit ihm geschehen. Der niedergeschmetterte, besiegte Sanders war verschwunden, und er war wieder ganz der Alte: selbstsicher, elegant, Herr der Lage. Sogar das feine Lächeln war zurück, das eher einem süffisanten Grinsen glich. Es war ganz und gar nicht dazu angetan, ihre Zuneigung zurückzuerobern.
»Tut mir leid, Sanders, aber ich habe zu tun. Vielleicht ein anderes Mal.«
Er hielt seine teuren Handschuhe in der Hand und sah sich langsam im Laden um. Dem ziemlich leeren Laden. Er ließ sich Zeit dafür und sah sie dann wieder an.
»Ich glaube, du möchtest sehr wohl hören, was ich zu sagen habe. Oder vielmehr, was dieser Herr hier zu sagen hat.« Er trat zur Seite, und Caroline konnte den anderen Mann jetzt deutlich sehen.
Er war von mittlerer Größe, mit kurzem sandfarbenem Haar und einer altmodischen, viel zu großen Brille. Schlanker Körperbau, aber nicht zu dünn. Schwarzer, schlecht sitzender Polyesteranzug, weißes Hemd, glänzende schwarze Krawatte. Absolut unauffällig, bis auf seine Augen. Die waren hellblau, kalt und leer.
»Ma’am«, sagte er und klappte ein ledernes Etui auf, in dem sich eine Dienstmarke aus Messing befand. »Special Agent Darrell Butler. FBI . Außenstelle New York.«
FBI ?
War das Sanders’ Art, einen Witz zu machen? Oder hatte er tatsächlich das FBI angerufen, weil Jack ihn gestern aus dem Laden geworfen hatte? Das ging ein bisschen zu weit, sogar für Sanders.
Und schämte sich das FBI nicht, auf jemanden
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