Gefaehrlicher Liebhaber - Jagd auf Jack the Ripper
noch mehr Betrunkene als sonst und auch mehr Seuchen. Wer konnte, hielt sich von den Elendsquartieren fern. Wer es nicht konnte, holte sich die Wärme in Gläsern im nächsten Pub. Seit dem letzten Mord waren drei Wochen vergangen. Mit der Kälte zog auch der Alltag wieder ein. Die Menschen hatten andere Probleme, als sich vor dem Ripper zu fürchten, wenn der wahrhaftige Tod Tag und Nacht auf sie zu lauern begann.
St. John saß im „Crown & Anchor“ nahe dem Hauptquartier der Dogs. Er hatte sich nicht bei Kieran gemeldet, denn er wollte ihm nur nahe sein, ohne wirklich mit ihm zusammenzutreffen.
Er hatte am Morgen in seinem Arbeitszimmer Berichte zu den Morden studiert, dazwischen diverse Einladungen zu Weihnachtsbällen abgelehnt und darüber nachgedacht, wo er die Festtage verbringen würde. Soweit er wusste, hatten seine Eltern vor, nach Warwickshire zu reisen, wo sie einen Hausball geben wollten. Den Jahreswechsel würden sie wieder in London verbringen, um dann am dritten Januar zur Jagd nach Moonhill Manor zu fahren. Seine Mutter lag ihm in den Ohren, er solle mitkommen und die Whitechapel-Morde für ein paar Wochen vergessen. Doch das konnte er nicht. Solange der Killer nicht gefangen war, hatte er keine Ruhe.
Er sah zu dem schmuddeligen Fenster hinaus. Wenn er sich ein wenig nach vorn reckte, konnte er das große Tor sehen. Eine innere Anspannung hatte sich seiner bemächtigt, die kaum zu ertragen war. Hatte er auch zunächst beabsichtigt, nur auf ein Bier in den Pub zu gehen und dann Kieran aufzusuchen, so waren ihm, hier am Fenster sitzend, plötzlich massive Zweifel gekommen.
Was, wenn Kieran ihn nicht sehen wollte? Schlussendlich hatten sie sich beim letzten Mal im Streit getrennt. Möglicherweise hatte er sich einen Trost gesucht, schlief längst mit einem anderen. Hatte ihn bereits aus seiner Erinnerung gestrichen. Kurz – er war zutiefst unschlüssig, was er anfangen sollte. Also würde er so lange sitzen bleiben, bis die Sehnsucht die Zweifel überwiegen würde. Oder Vernunft und Einsicht den Triumph über seine Gefühle davon-trügen.
Das zweite Bier hatte ihn träge gemacht und das vierte Bier seinen Kopf vernebelt. Jetzt war er beim fünften Pint angekommen. Er leerte es, stand auf und marschierte mit langen Schritten auf das Tor zu. Mit jedem Atemzug wurde es größer. Mächtiger.
Die ganze Straße, ja ganz London, schien nur noch aus diesem einen Tor zu bestehen. Dem Tor zur Hölle? Dem Tor zum Himmel? Er wusste es nicht. Es war ihm egal. Er wusste nur, dass hinter diesem Tor sein Schicksal lauerte. Kieran würde ihn zerstören oder in den Himmel heben. Vielleicht gab es auch gar keinen Unterschied.
Es rauschte in seinen Ohren, er hörte nichts. Spürte nur den Schmerz, bedingt durch den wuchtigen Schlag seiner Faust gegen das Tor. Da niemand zum Öffnen zu kommen schien, hämmerte er abermals. Wartete wieder einen Moment und hieb ohne Unterlass gegen das Holz.
„Mach auf! Sofort! Du verdammter Hurensohn!“, brüllte er und wusste nicht, ob sein Zorn vom Bier kam oder aus seinem Herzen. War er neu, oder schon immer da gewesen?
„Los schon! Willst du mich ewig hier stehen lassen, du Hundsfott?“, grölte er. St. John war so außer sich, dass er nicht merkte, dass das Tor geöffnet worden war und ein kleiner, schmächtiger Mann vor ihm stand. Als er ihn bemerkte, stieß er ihn rabiat zur Seite und marschierte in die Höhle des Löwen.
„Wo bist du, Kieran O’Malley? Wo versteckst du dich?“ Verwunderte, aber auch amüsierte Blicke streiften ihn. Als er an dem Paravent ankam, hinter dem er Kieran vermutete, riss er diesen einfach um. Mit Krachen fiel die Holzkonstruktion zu Boden und gab den Blick auf den Anführer der Blind Dogs frei.
Er trug eine Hose und ein halb offenes Matrosenhemd. Vor ihm stand, St. John den Rücken zugewandt, ein junger Mann, der sich jetzt umdrehte und St. John überrascht ansah.
Glühende Lava schoss St. John ins Gesicht. Sein Herz hämmerte in der Kehle, wobei der wütende Schlag immer weiter anstieg und nicht nur von seinem umnebelten Gehirn Besitz ergriff, sondern auch von seinem Gehör.
Es entging ihm nicht, dass sich Kierans Oberlippe an einer Seite leicht anhob. Sollte es ein bösartiges Lächeln sein? Ein abschätzender Blick?
„Verschwinde!“, knurrte St. John den jungen Burschen an, der nun seinerseits zu Kieran hinsah. Der aber rührte sich nicht.
„Ich sagte: Ver-schwin-de!“, murmelte St. John, machte einen Schritt nach vorne,
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