Gefährliches Geheimnis
Zeugen von Verzweiflung und Gewalt waren, ebenso wenig wie sich dies in den Gesichtern der Menschen widerspiegelte, die ihren Geschäften nachgingen, kauften und verkauften, klatschten und sich in der kalten Luft Grüße zuriefen.
Am Abend tat Monk, was ihm viele so warm ans Herz gelegt hatten, und hörte sich ein Konzert an, bei dem der junge Johann Strauss dirigierte. Die fröhliche, lyrische Musik hatte Europa im Sturm erobert, sogar die ziemlich gesetzte und phantasielose Königin Victoria entzückt und ganz London ins Walzerfieber gestürzt.
Hier in seiner Heimatstadt hatte sie eine Magie, eine Fröhlichkeit und eine Geschwindigkeit, die die Politik, die eisigen Winde aus Ungarn und die Verluste und Fehler der Vergangenheit vergessen ließen. Drei Stunden lang erlebte Monk das Herz Wiens, und Vergangenheit und Zukunft spielten keine Rolle, wurden von dem Entzücken des Augenblicks verschlungen. Er würde nie mehr einen Dreivierteltakt hören, ohne sich an diese Süße zu erinnern.
Lange nach Mitternacht kehrte er in sein Hotel zurück, und um zehn Uhr am nächsten Morgen machte er sich, nach einer ausgezeichneten Tasse Kaffee, auf den Weg zu
seiner Verabredung mit Vater Geissner.
Diesmal wurde er sofort hineingeführt, und die
Haushälterin ließ sie allein.
Vater Geissner war ein ruhiger, älterer Herr mit einem asketischen Gesicht, das in seinem inneren Frieden fast schön zu nennen war.
»Was kann ich für Sie tun, Herr Monk?«, fragte er in ausgezeichnetem Englisch und lud ihn mit einer Geste ein, sich zu setzen.
Monk hatte lange darüber nachgedacht, welchen Vorteil es ihm bringen würde, wenn er das Thema indirekt ansprach, dies jedoch verworfen, weil es wahrscheinlich das Vertrauen des Priesters zerstörte, wenn er dahinterkam. Dieser Mann hatte sein ganzes Berufsleben damit verbracht, sich die Geheimnisse anderer Menschen anzuhören. Ähnlich wie Monk hatte er gelernt, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden und die Gründe zu verstehen, warum die Menschen ihre Handlungen und Motive verheimlichten.
»Frau Magda Beck hat mir geraten, mich an Sie zu wenden«, antwortete Monk, der sich kaum in dem behaglichen, von Bücherregalen eingefassten Büro umschaute, in dem er empfangen wurde. »Sie sagte, Sie kannten ihren Schwager, Kristian Beck, als er hier in Wien lebte, insbesondere während der Aufstände 1848.«
»Ja, das stimmt«, meinte Geissner, aber seine Miene war wachsam, obwohl er Monk mit seinen blauen Augen offen und direkt anschaute. »Wieso interessiert Sie das?«
»Weil Elissa Beck in London, wo sie gelebt haben, umgebracht wurde und Kristian wegen des Verbrechens vor Gericht steht.«
Monk ignorierte die Verblüffung in Geissners Gesicht.
»Er ist ein Freund meiner Frau, die Krankenschwester ist.« Dann fügte er – für den Fall, dass Geissners Meinung über
Krankenschwestern sich auf der weit verbreiteten Auffassung gründete, sie seien Dienstmädchen, deren moralischer Charakter sie daran hindere, eine normale häusliche Stellung anzunehmen – rasch hinzu: »Sie war mit Miss Nightingale auf der Krim. Kristian ist auch ein Freund von Lady Callandra Daviot, die ich seit vielen Jahren kenne. Wir haben alle das Gefühl, dass es für das, was passiert ist, eine andere Erklärung gibt, und ich bin nach Wien gekommen, um zu ergründen, ob diese in der Vergangenheit liegen könnte.«
Mitleid flackerte kurz in Geissners Gesicht auf – unmöglich zu sagen, ob es Elissa galt, weil sie tot war, Kristian, wegen seiner gegenwärtigen Lage, oder Monk, weil er sich an eine Aufgabe gemacht hatte, die unmöglich zu lösen war.
»Ich war bei der Polizei«, erklärte Monk, bevor ihm klar wurde, dass auch das womöglich keine Empfehlung war.
»Jetzt ermittle ich privat für Menschen, die Probleme haben, für die sich die Polizei nicht interessiert oder bei denen sie aufgegeben hat.«
Geissner zog die weißen Augenbrauen hoch. »Oder bei denen sie zu Antworten kommt, die Sie unannehmbar finden?«
»Die Polizei könnte gezwungen werden, sich diese Antworten zumindest anzuhören«, sagte Monk vorsichtig und beobachtete Geissners Gesicht, in dem sich keinerlei Reaktion zeigte. »Aber nicht bereitwillig, solange es die Möglichkeit einer anderen Antwort gibt. Diejenigen, die Dr. Beck kennen, können einfach nicht glauben, dass er so etwas getan haben soll. Er ist ein Mann von bemerkens- werter Selbstdisziplin, Hingabe und Mitleid.«
»Das klingt ganz nach dem Mann, den ich kenne«, stimmte Geissner
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