Gefährliches Geheimnis
bevor zu viel Phantasie ihr auch noch den letzten Rest Courage raubte.
Sie verließ das Speisezimmer, durchquerte die Halle und ging nach oben, um sich fertig zu machen und ihre Kostümjacke und den passenden Hut zu holen.
Die Fahrt nach Hampstead hinaus dauerte mehr als eine Stunde. Sie kam wegen des Verkehrs und des dichten Nebels nur langsam voran und hatte mehr Zeit, als ihr lieb war, um die Szene dutzendmal in Gedanken durch-
zuspielen, und jede Version war so schmerzlich wie die vorherige.
Als sie am Krankenhaus ankamen, bat sie den Kutscher, auf sie zu warten, weil sie nicht lange bleiben wollte. Doch dann war sie gezwungen, fast eine Stunde zu warten, weil Fermin Thorpe ein Gespräch mit einem jungen Arzt führte, den er anscheinend einstellen wollte. Sie blieb notgedrungen ruhig. Bei anderer Gelegenheit hätte sie ihn einfach unterbrochen, schließlich gehörte sie dem Vorstand an. Aber heute konnte sie es sich nicht leisten, Thorpe gegen sich aufzubringen.
Als dieser den jungen Arzt schließlich lächelnd und mit einem Scherz verabschiedet hatte, wandte er sich mit einem zufrieden strahlenden Gesicht Callandra zu. Er konnte Kristian nicht leiden, weil Kristian der bessere Arzt war, und beide wussten das! Kristian fügte sich ihm nicht. Wenn er anderer Meinung war – was bei moralischen und sozialen Angelegenheiten oft der Fall war –, sagte er das auch, und Thorpe verlor den Streit, wofür es in seinem starren Geist kein Verzeihen gab. Jetzt war er im Begriff, Kristian ein für alle Mal loszuwerden, und er schmeckte schon den süßen Geschmack des Sieges auf den Lippen. Es würde vor aller Welt bewiesen werden, dass er mit all seinen bitteren, kritischen Kommentaren, die er je über Kristian geäußert hatte, weit über seine kühnsten Träume hinaus Recht gehabt hatte.
»Guten Morgen, Lady Callandra«, sagte er fröhlich. Er war beinahe freundlich, er konnte es sich leisten. »Ein wenig kühl heute Morgen, aber ich hoffe, es geht Ihnen gut.«
Sie musste schauspielern wie noch nie in ihrem Leben.
»Sehr gut«, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln.
»Die Kälte macht mir nichts aus. Ich hoffe, Ihnen geht es auch gut, Mr. Thorpe, trotz der Last der Verantwortung, die auf Ihnen ruht.«
»Oh, sehr gut«, sagte er überzeugend, hielt ihr die Tür zu seinem Büro auf und trat einen Schritt zur Seite, um sie vorbeizulassen. »Ich glaube, wir werden unsere zeitweiligen Schwierigkeiten überwinden. Der junge Doktor Larkmont macht einen sehr viel versprechenden Eindruck. Gute chirurgische Erfahrung, nettes Auftreten, interessiert.« Er erwiderte kühn ihren Blick.
»Gut«, antwortete sie. »Ich bin sicher, Sie treffen eine verantwortungsvolle Entscheidung. Das haben Sie immer schon. Sie haben nie einem unfähigen Mann erlaubt, hier zu praktizieren.«
»Ah … also …« Er wusste nicht, ob er Kristian erwähnen sollte oder nicht, ob er mit ihr streiten und sich blamieren sollte oder ihr beipflichten und sich in eine Ecke manövrieren, in der er, und sei es nur implizit, etwas Positives über Kristian sagen musste.
»Ja«, meinte er. »Meine Pflicht … meine …«
»Verantwortung«, fuhr sie für ihn fort. »Der gute Ruf des Hampstead Krankenhauses beruht hauptsächlich auf der Vortrefflichkeit unserer Ärzte.«
»Natürlich«, gab er ihr Recht, ging um seinen Tisch herum und wartete, bis sie auf dem Stuhl gegenüber Platz genommen hatte, bevor auch er sich setzte. »Und natürlich auf Disziplin und Organisation und den höchsten moralischen Normen.« Er betonte das Wort »moralisch« mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln.
Sie senkte den Kopf, einen Augenblick lang war sie zu wütend, um ihre Stimme unter Kontrolle zu haben. Sie atmete ein und aus und ermahnte sich, dass Kristians Leben davon abhängen konnte. Was war dagegen ihr Stolz? Nichts! Überhaupt nichts. »Ja«, gab sie ihm Recht.
»Das ist einer unserer größten Aktivposten. Wir müssen alles tun, um dafür zu sorgen, dass man uns dies nicht
nimmt, denn der Schaden könnte tragisch sein, vielleicht sogar nicht wieder gutzumachen.« Sie bemerkte den Schatten in seinen Augen und spürte, dass ihre Zuversicht ein wenig wuchs. »Es ist unsere Pflicht … also, Ihre. Ich möchte nicht anmaßend sein, aber ich möchte meinen Beistand anbieten.«
Jetzt war er verwirrt, weil er nicht wusste, was sie damit meinte. »Vielen Dank, aber ich bin mir nicht sicher, ob Sie etwas tun können. Wir werden einen sehr ernsten Schlag erleiden, falls
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