Gefährliches Geheimnis
Ruf den Arzt. Wickel sie nicht in Laken, wickel sie gleich in Decken und bleib bei ihr sitzen.« Sie sah ihm ins Gesicht, um sicherzugehen, dass er sie verstanden hatte, dann schaute sie Monk an. »Wir müssen Pendreigh finden, falls er noch lebt. Vielleicht kann ich ihm helfen.«
»Wir haben keine Ahnung, wo er ist!«
»Wir fangen bei ihm zu Hause an. Dorthin gehen die meisten Menschen, wenn sie schwer verletzt sind.« Sie wollte schon in Richtung Straße eilen.
»Nein«, sagte Monk instinktiv.
Hester ignorierte ihn. »Und wir müssen einen Constable oder sonst jemanden mitnehmen! Abgesehen von allem anderen, hast du keinerlei Befugnis. Und« – sie schluckte, und der eisig kalte Nebel tat ihr in der Lunge weh – »wir müssen erfahren, was passiert ist, um Imogens willen. Wir müssen sie schützen!« Es war grauenhaft und immer noch vollkommen unerklärlich. Warum hatte sie Pendreigh angegriffen? Es musste einen Grund geben, etwas, was sie
– vor dem Gesetz – entschuldigen würde.
»Ich hole Runcorn«, antwortete Monk. »Aber nicht du! Du gehst nach Hause!«
»Nein, das tue ich nicht. Es ist meine Pflicht, den Ver- letzten zu helfen, so wie es deine Pflicht ist, dem Gesetz zu dienen. Steh nicht herum und vergeude keine Zeit. Wir brauchen eine Kutsche, und wir brauchen Runcorn!«
Charles hatte sich bereits gebückt und hob Imogen vorsichtig hoch, drückte Rücken und Beine durch, um seine Frau zu der wartenden Kutsche zu tragen. In den Kutscher kam Leben, und er eilte, die schwankende Lampe haltend, hinter den beiden her. Hester und Monk blieben allein im Dunkeln zurück.
»Fang jetzt nicht an zu streiten!«, zischte sie.
Monk fluchte, dann verkniff er sich weitere Bemerkungen und machte sich auf den Weg zum Ende der Brücke, wo aus Richtung New Bridge Street eine Kutsche auftauchte. Er rief dem Kutscher etwas zu und sah, dass der Mann, der einen Mantel mit hohem Kragen und einem Zylinder trug, sich überrascht und missmutig umdrehte.
»Ein Notfall!«, sagte Monk atemlos, als er an der Kutsche ankam. Er half Hester hinein und kletterte hinter ihr in die Kutsche.
»Bringen Sie mich zu Hauptkommissar Runcorns Haus in der Lamb’s Conduit Street, und zwar so schnell wie möglich.«
Der Kutscher war einen kurzen Augenblick unentschlossen, doch dann folgte er Monks Anweisungen, und Monk setzte sich zitternd neben Hester und betete, dass Runcorn zu Hause war. Wenn er den Kutscher anweisen musste, ihn zu suchen, wusste er keinen anderen Ort als das Polizeirevier, und selbst das hieße, Zeit zu vergeuden. Dem vielen Blut auf Imogens Kleidern nach zu schließen, musste Pendreigh schwer, wenn nicht sogar tödlich verwundet sein.
»Was, um alles auf der Welt, haben sie auf der Brücke
gemacht? Warum ist sie mit ihm gegangen?«, sagte Monk, während sie im Dunkeln nebeneinander in der Kutsche saßen.
Hester hielt es nicht für nötig, ihm zu antworten. Nichts ergab irgendeinen Sinn, außer dass sie wild und verzweifelt gekämpft hatten und Imogen bewusstlos auf dem Gehweg zurückgeblieben war, während Pendreigh so heftig blutete, dass er sicher nicht weit kam.
Der Nebel wurde dünner, je weiter sie vom Fluss wegkamen, und die Kutsche nahm Fahrt auf.
»Er muss sie angegriffen haben«, sagte Monk im wechselnden Licht, während sie unter einer Straßenlaterne nach der anderen durchführen. »Aber warum? Womit kann sie ihm gedroht haben? Und sag nicht, um ihm die Schuld an Elissas Tod zu geben. So ein Narr ist er nicht. Elissa spielte aus eigenem Willen. Das hatte nichts mit irgendjemandem sonst zu tun!«
»Imogen war in der Nacht, in der die Morde geschahen, in der Swinton Street«, antwortete Hester. »Wir wissen, dass sie Allardyce gesehen hat …«
»Pendreigh?«, sagte er verwundert. »Warum?«
»Ich weiß es nicht …«
Die Kutsche kam abrupt zum Stehen, und nachdem Monk Hester gebeten hatte zu warten, sprang er hinaus, lief über das nasse Pflaster und schob die Eingangstür auf. Im Treppenhaus nahm er zu Runcorns Wohnung gleich zwei Stufen auf einmal. Dort schlug er mit der Faust so fest gegen die Tür, dass diese im Rahmen ratterte.
»Runcorn!«, rief er. »Runcorn!«
Die Tür ging auf, und Runcorn starrte ihn an. »Was ist los?«, fragte er ruhig.
Monk schluckte. »Pendreigh hat Imogen Latterly aus
dem Gerichtsgebäude und durch den Nebel mit zur Blackfriars’ Bridge genommen. Dort haben sie sich wegen irgendetwas gestritten.« Er hätte Runcorn fast in die Wohnung geschoben, um nach
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