Gefährliches Geheimnis
und die Kutsche blieb am Bordstein stehen.
Runcorn schnaubte wütend und stieg nach ihm ein.
Hester blickte Monk fragend an, sobald er durch die Tür des Wohnzimmers trat. Sie sah müde und besorgt aus. Ihr Haar hatte sich aus den Nadeln gelöst, und auf einer Seite hatte sie es zu fest hochgesteckt. Sie hatte keine Handarbeit hervorgeholt, offensichtlich hatte sie nicht die Ruhe, sich mit etwas zu beschäftigen. Er schloss die Tür.
»Runcorn hat den Fall«, sagte er einfach. »Er hat Angst und war einverstanden, dass ich ihm helfe. Bist du Kristians Frau jemals begegnet?«
»Nein. Warum?« Ihre Stimme war voller Furcht. Sie forschte in seinem Gesicht nach dem Grund für seine Frage und stand auf.
»Und Callandra?«, fuhr er fort.
»Ich weiß nicht. Warum?«
Er trat auf sie zu. Es war schwer zu erklären, dass Elissa Becks Gesicht etwas hatte, was einem lange, nachdem man sie gesehen hatte, in Erinnerung blieb. Hester wartete,
doch er fand einfach nicht die richtigen Worte.
»Sie ist schön«, fing er an und berührte sie, löste geistesabwesend die zu fest gesteckten Haarsträhnen und legte eine Hand auf ihre warme Schulter. »Ich meine nicht nur die Gesichtszüge oder die Farbe ihres Haares oder ihrer Haut, ich meine eine innere Qualität, die sie einzigartig machte.« Er sah Hesters Überraschung.
»Ich weiß! Du dachtest, sie wäre langweilig, vielleicht sogar kalt, hätte möglicherweise ihr gutes Aussehen verloren und würde sich vernachlässigen …«
Sie wollte widersprechen, doch dann besann sie sich eines Besseren.
Er lächelte ein wenig. »Ich doch auch«, gab er zu. »Ich glaube auch nicht, dass der Künstler sie umgebracht hat. Er war in sie verliebt.«
»Um Himmels willen«, sagte sie spitz. »Das bedeutet doch nicht, dass er sie nicht umgebracht hat! Falls sie ihn abgewiesen hat, könnte das sehr gut das Motiv sein!«
»Er hat mehrere Bilder von ihr gemalt«, fuhr Monk fort.
»Ich glaube nicht, dass er seine Muse zerstören würde, ob sie ihn abgewiesen hat oder nicht. Und ich hatte das Gefühl …« Er unterbrach sich.
»Was?«, fragte sie drängend.
»Dass … dass er so etwas wie Ehrfurcht vor ihr hatte«, beendete er seinen Satz. »Es war nicht nur Begierde. Ich glaube wirklich nicht, dass Allardyce sie getötet hat.«
»Und die andere Frau?«, fragte sie leise. »Es haben schon Menschen andere Menschen umgebracht, die sie liebten, um sich zu schützen – insbesondere wenn die Liebe nicht in gleichem Maße erwidert wurde.«
»Ich weiß nicht«, antwortete er. »Du hast Recht. Wahrscheinlich hat jemand sie umgebracht, und Elissa
Beck hatte das Unglück, Zeugin der Tat zu werden.«
»Könnte es nicht auch andersherum gewesen sein?« Ruhig erwiderte sie seinen Blick.
»Ja«, stimmte er ihr zu. »Es gibt viele Möglichkeiten. Aber Allardyce behauptet, er sei nicht dort gewesen. Er sagt, Elissa Beck kam manchmal, ohne sich vorher anzukündigen, zu ihm ins Atelier, dann unterhielten sie sich, oder er hat sie gemalt, für sich, nicht zum Verkaufen. Es gibt ein Bild von ihr, eine Szene aus Wien. Es trägt den Titel Beerdigung in Blau und ist eines der besten Bilder, die ich je gesehen habe.« Er fuhr nicht fort. Ihr Gesicht sagte ihm, dass sie begriff, dass er in Gedanken bereits mit dem beschäftigt war, was das bedeuten konnte.
Sie stand vor ihm. »Du wirst aber doch trotzdem bei der Lösung des Falls helfen … nicht wahr?« Es war eine Feststellung, keine Frage.
»Ich werde es versuchen«, sagte Monk, schlang die Arme um sie und spürte unter dem Stoff ihres Kleids die Anspannung in ihrem Körper. Er wusste, dass sie jetzt noch mehr Angst hatte als zu dem Zeitpunkt, als er weggegangen war, um Runcorn aufzusuchen. Doch das galt auch für ihn.
3
Monk verließ das Haus am nächsten Morgen sehr früh und ging schon um halb acht mit flinken Schritten die Tottenham Court Road hinunter. Es wehte ein kalter Wind, und der Nebel hatte sich gelichtet. Er hörte die Zeitungsjungen einen erneuten Ausbruch von Typhus im Gebiet um Stepney in der Nähe von Limehouse ausrufen. Er dachte an das dortige Fieberkrankenhaus und wie viel Angst er gehabt hatte, Hester würde sich anstecken. Vergeblich hatte er sich bemüht, sich selbst davon zu überzeugen, dass er sie nicht liebte, zumindest nicht genug, um nicht sein Leben in aller Ruhe weiterzuführen, falls sie starb. Wie verzweifelt hatte er darum gekämpft, sich nicht den Gefahren auszusetzen – und verloren!
Dann dachte er an Kristian
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