Gefährliches Geheimnis
Hilfe.«
»Im Krankenhaus.« Sie zeigte ihnen die Richtung. »Ich kann nichts für Sie tun. Sie sollten sich beeilen, bevor er anfängt zu operieren, denn dann lässt er sich durch nichts in der Welt unterbrechen, nicht von Ihnen und nicht von mir und nicht von dem Allmächtigen selbst.«
Runcorn dankte ihr und ging zurück zur Straße, um Ausschau nach einem Hansom zu halten. Monk hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, aber wenn er an der Sache dranbleiben wollte, hatte er keine andere Wahl, als Runcorn zu folgen. Er war überzeugt, dass Runcorn das sehr wohl wusste und es genoss.
»Sie sollten eine Droschke herbeirufen«, sagte Runcorn nach einem Augenblick.
Monk wusste, warum er dies tat. Droschkenkutscher konnten die Selbstsicherheit eines Gentleman auf fünfzig Meter ausmachen. Ein Mann mit Benehmen hatte mehr Geld, musste seinen sozialen Status wahren und würde daher großzügiger sein. Egal, was Runcorn trug, egal, welchen Rang er erreichte, er würde niemals den Stil, die unbewusste Überheblichkeit besitzen, die Monk in die Wiege gelegt worden war. Genau darum war es in all den Jahren, seit sie sich kannten, stets gegangen: Beide waren sich dieses Unterschieds zwischen ihnen bewusst, und Monk hatte weder ein einziges ehrliches, lobendes Wort gesagt, noch den Mund gehalten. Er war nicht stolz darauf, aber das jahrelang eingeübte Verhaltensmuster war nicht
leicht zu durchbrechen.
Wieder saßen sie schweigend da. Etwa eine halbe Stunde später stiegen sie am Krankenhaus aus, und Monk ging voraus. Er kannte das Gebäude, weil er sich ver- schiedentlich mit Hester hier getroffen hatte.
Sobald er drinnen war, roch er den vertrauten Geruch nach Karbol und Lauge, dazwischen noch einen anderen süßlichen Geruch, vielleicht Blut. Seine Phantasie versetzte ihn zurück an den Morgen, an dem er nach seinem Unfall aus der Bewusstlosigkeit erwacht war, und auf das Schlachtfeld in Amerika, wo er zum ersten Mal gesehen hatte, was Hester tatsächlich auf der Krim geleistet hatte – nicht das, was man sich in England unter Entsetzen und Hilflosigkeit vorstellte, sondern die blutige, schmerzvolle Realität des Krieges.
Runcorn war einen Schritt hinter ihm. Die unterschied- lichen Erfahrungen waren ein Abgrund zwischen ihnen, der unmöglich zu überwinden war. Selbst wenn Runcorn ihm zuhörte, konnte alles Reden in der Welt Dinge, für die es keine Worte gab, nicht begreiflich machen.
Sie gingen an einer Frau mittleren Alters vorbei; sie trug zwei schwere Körbe mit Bettzeug, deren Gewicht ihre Schultern nach unten zog. Sie sah sie nicht an. Sie war eine Krankenpflegerin, eine Dienstmagd, die aufräumte und sauber machte, das Feuer schürte, wusch, Verbände auf- wickelte und im Allgemeinen das tat, was man ihr auftrug.
Drei Medizinstudenten in blutbespritzten Hemden waren in eine ernste Unterredung vertieft. Einer hatte einen Schnitt in seinem schwarzen Gehrock, als hätte es ihn in der Eile eines chirurgischen Eingriffs erwischt. Auch um den Schnitt herum war Blut, aber dunkel und ein- getrocknet, also war es nicht heute passiert.
»Wir suchen Dr. Beck«, sagte Monk und blieb bei den
Männern stehen.
Sie betrachteten ihn mit leichter Geringschätzung. »Das Wartezimmer ist dort drüben«, sagte einer und zeigte in die entsprechende Richtung, bevor er seine Aufmerk- samkeit wieder seinen Kollegen zuwandte.
»Polizei!«, fuhr Monk ihn an, den diese anmaßende Hal- tung reizte, mit der nicht nur er, sondern auch Patienten be- handelt wurden. »Wir haben nicht die Absicht zu warten.«
Die Miene des Studenten veränderte sich kaum. Er war Akademiker, und ein Polizist rangierte in seinen Augen weder von seinen Kenntnissen, noch von seiner sozialen Stellung her kaum höher als ein Gerichtsvollzieher, der sich mit dem Abschaum der Welt befasste. »Es wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben«, sagte er trocken.
Runcorn sah erst den Studenten an und dann Monk; die Hoffnung, dass Monks rasiermesserscharfe Zunge nichts von ihrer Schärfe verloren hatte, stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Wenn der Operationssaal sich noch dort befindet, wo er einmal war, werde ich ihn wohl allein finden«, erwiderte Monk. Er musterte das Jackett des jungen Mannes. »Ich sehe, dass Sie noch einiges über den akkuraten Umgang mit dem Skalpell zu lernen haben. Außer natürlich, Sie hatten vor, sich selbst den Blinddarm rauszuschneiden? Wenn dem allerdings so war, dann glaube ich doch, dass er auf der anderen Seite ist.«
Der Student
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