Gefährliches Geheimnis
worden zu sein. Er
sprach von seinem Schmerz wie ein Kind, das zurück- schlägt. Er spürte keine Blutsbande, dieses instinktive Band, das fester war als alle Rücksicht. Vielleicht war es zutiefst unvernünftig, aber falls er es jemals empfunden hatte, dann war es mit all seinen Erinnerungen verschwunden. Er war allein, wurzellos, ohne eine Identität, die mehr war als ein paar Jahre Handeln und Denken.
Er beneidete sie. Ob sie Charles nahe stand oder nicht, ob sie ihn mochte oder bewunderte, sie besaß eine heile Verbindung zur Vergangenheit, einen Anker.
»Ich wusste nicht, dass sie spielt«, sagte sie mit einem Stirnrunzeln. »Ich wusste, dass es etwas Aufregendes und Gefährliches war. Ich dachte, es ginge um einen Lieb- haber. Ich nehme an, ich bin froh, dass dem nicht so ist.«
»Aber du hast …«
»Es dir nicht gesagt?« Sie hatte die Augen weit aufgerissen. »Dass ich fürchtete, die Frau meines Bruders hätte eine Affäre? Natürlich habe ich dir das nicht gesagt. Hättest du das erwartet, wenn du nichts dagegen hättest unternehmen können?«
Er begriff. Er hätte weniger von ihr gehalten, wenn sie eine solche Verletzlichkeit gezeigt hätte, selbst ihm gegenüber. Sie schützte ihren Bruder, instinktiv, ohne darüber nachzudenken, dass das einer Erklärung bedurfte. Sie hatte zeitweilig vergessen, dass Monk niemanden hatte außer ihr. Er hatte seine Schwester in Northumberland zurückgelassen, als er nach London gekommen war, und das war lange her. Er schrieb ihr nur selten. Eine Welt unterschiedlicher Erfahrung und Ziele trennte sie, und es gab keinen Reichtum an gemeinsamen Erinnerungen, um die Kluft zu überbrücken.
»Ich werde es Charles sagen müssen«, sagte sie leise.
»Hester …« Er war immer noch verwirrt über ihr
Verhalten und hätte gerne geholfen, wusste aber nicht, wie. »Bist du …?«, setzte er an, wusste aber nicht, wie er den Satz beenden sollte. Charles wusste es bereits. Er war Imogen gefolgt. Runcorn hatte das noch nicht herausge- funden, aber wenn er weiter über Elissas Glücksspiel in der Spielhalle ermittelte, war es mehr als wahrscheinlich, dass er dahinter kam. Dann würde er wissen, dass er Monk insgeheim für eine Aufrichtigkeit geachtet hatte, die nur eine halbe war, als würde Monk Charles Latterly und nicht Kristian schützen. Vielleicht akzeptierte Runcorn Familienloyalität, oder würde er nur Schuld sehen?
Monk stellte überrascht fest, dass er überhaupt nichts über Runcorns Eltern wusste oder ob er Geschwister hatte. Vor seinem Unfall hatte er es sicher gewusst, oder war es ihm gleichgültig gewesen?
»Charles weiß bereits, dass da etwas ist«, unterbrach Hester seine Gedanken. »Ich glaube, es ist ihm lieber, dass es Glücksspiel ist, das wäre wohl bei den meisten Menschen so. Es ist … nicht so ein großer Betrug.« Sie blickte einen Moment weg. »Sind es nur gelangweilte Menschen, die spielen, William? Ich kann mir nicht vorstellen, spielen zu wollen, aber wenn ich nichts zu tun hätte, als ein Haus zu führen, ohne Kinder, ohne Ziel, nichts zu gewinnen oder zu verlieren, keine Aufregung im Leben, keine Krisen, würde ich mir vielleicht meine eigenen schaffen.«
Er wollte lachen. »Ich bin mir sicher, das würdest du.« Dann verschwand sein Lächeln. Er hatte sich sinnlos gequält, weil er ihr keine Schmerzen bereiten wollte, und wusste nicht, ob er darüber erleichtert oder verärgert sein sollte oder beides. Sie hatte auch Recht, was eine Affäre betraf. Er würde es vorziehen, wenn sie vom Spielen besessen wäre, und wäre es noch so ruinös, als von einem anderen Mann. Er war schockiert über die Erkenntnis, dass
er nicht wusste, ob er das ertragen könnte. Er hatte niemals so sehr von jemandem abhängig sein wollen. Liebe war angenehm, aber die Macht, so verletzt werden zu können, so zum Krüppel gemacht zu werden, dass man nie mehr geheilt wurde, war sehr unangenehm.
War Charles Latterly damit konfrontiert? Oder Kristian? Hatte Allardyce Teil an Elissas heimlichem Leben, nicht nur als Zuschauer, der Zeichnungen anfertigte, und gele- gentlich eine Zuflucht zur Verfügung gestellt hatte? Eines war ganz sicher: Jemand hatte die beiden Frauen getötet.
»Warum hat Charles gedacht, es ginge um eine
Affäre?«, fragte Monk. »Hat er dir das gesagt?«
»Er hat ein paar Briefe gefunden, Verabredungen mit jemandem, der sich nicht die Mühe gemacht hat, sie zu unterzeichnen«, antwortete sie. »Den Worten war zu entnehmen, dass Imogen und
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