Gefährliches Geheimnis
hohem Bogen darüber flog.
Sie hatte Seite an Seite mit Kristian gearbeitet, sich um die Kranken gekümmert, für Reformen und Verbesse- rungen gekämpft. Sie hatte sein Mitleid gesehen und wusste, dass er bis zur Erschöpfung arbeitete. Sie konnte nicht glauben, dass er Elissa getötet, geschweige denn ein weiteres Verbrechen begangen hatte, indem er eine Frau umbrachte, deren einziges Vergehen es gewesen war, anwesend zu sein.
Aber jeder hat Grenzen, was er geduldig ertragen kann, eine Schmerzgrenze. Man kann nicht immer sagen, welcher Kummer oder Verlust, welche Schande jemanden über den Abgrund treibt. Die Verzweiflung konnte einen völlig überraschend erwischen, konnte ausbrechen und einen überwältigen, bevor einem bewusst wurde, wie nah sie war. Callandra hatte selbst schon am Rand der Panik gestanden. Sie ging nicht davon aus, dass Kristian dagegen
immun war.
Aber sie konnte ihm nicht helfen, solange sie nicht die Wahrheit kannte. Halb blind und eher das glaubend, was sie wollte, statt das, was wahr war, konnte sie mehr Schaden als Nutzen anrichten.
Hatte Fuller Pendreigh gewusst, dass Elissa spielte, und ihre Schulden bezahlt, als Kristian es nicht mehr konnte? Oder war es möglich, dass sie mehr schuldete, als sie aufbringen konnte, und in ihrer Verzweiflung einen Weg gefunden hatte, das Geld selbst zu besorgen? Konnte das irgendwie zu ihrer Ermordung geführt haben? Sie war schön und einfallsreich gewesen, und es hatte ihr nicht an körperlichem Mut gefehlt. Sie wäre nicht die erste Frau gewesen, die sich verkaufte, wenn es keinen anderen Ausweg gab.
Hatte Pendreighs Wohlstand sie aufgefangen oder nicht? Callandra erhob sich, ließ das Unkraut liegen, wo es lag,
und ging über den Rasen zur Terrassentür. Sie stellte den
Korb mit der Gartenschere auf die Stufe, streifte die Hand- schuhe ab und trat ins Haus, wo sie die Schuhe auszog und direkt die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer ging.
Nachdem sie sich gewaschen und umgezogen hatte, rief sie ihre Zofe, damit die ihr half, ihr Korsett zuzuschnüren und die kleinen Knöpfe des Mieders zuzuknöpfen. Ihr Haar war eine andere Sache. Niemand schaffte es, dass es länger als fünfzehn Minuten elegant aussah, aber die Zofe mit ihrer unendlichen Geduld tat ihr Bestes.
Eine Stunde nachdem sie den Beschluss gefasst hatte, saß Callandra in ihrer Kutsche und war auf dem Weg zu Fuller Pendreigh. Sie würde auf ihn warten oder notfalls in die Stadt fahren, aber sie würde ihn aufsuchen.
Er war nicht in der Ebury Street, aber man erwartete ihn in Kürze, und sie wurde in einen sehr schönen Wintergarten
geführt. Hätte sie weniger auf dem Herzen gehabt, hätte sie es genossen, die verschiedenen exotischen Pflanzen wieder- zuerkennen und zu raten, aus welchem Land sie stammten.
Sie schaute gerade eine große gelbe Blüte an, ohne sie richtig zu sehen, als sie in der Halle Schritte und leises Gemurmel hörte. Im nächsten Moment stand Pendreigh in der Tür und betrachtete sie mit leichter Verwirrung. Sie sah die Spuren des Kummers in seinem Gesicht. Seine Haut hatte kaum Farbe, und auf seinen Wangen lag ein Schatten, als hätte er sich nicht rasiert, obwohl er in Wirklichkeit tadellos rasiert war. Es war Erschöpfung, die seine Lippen schmal und sein Gesicht hohlwangig machte.
»Lady Callandra?« Die Worte waren nicht so sehr eine Frage nach ihrer Identität, sondern drückten Verwirrung darüber aus, was sie am hellen Nachmittag hier machte, ohne vorher einen Brief oder eine Karte zu schicken, um ihren Besuch anzukündigen. Sie kannten einander nur dem Namen nach. Sie hatte unermüdlich für Reformen bei der Behandlung von verletzten und kranken Soldaten gekämpft. Ihr Mann war Armeearzt gewesen, und sie hatte von ihm erfahren, welche Probleme man mit Weitblick und Intelligenz hätte überwinden können. Sie hatte so viele Beschwerden, Gesuche und Einwände verfasst und an alle möglichen Menschen geschrieben, dass ihr Name weithin bekannt war. Sie ließ sich von niemandem einschüchtern, und Schmeichelei hatte keine Wirkung auf sie.
Pendreigh hatte, wie ihr zu Ohren gekommen war, für die Reform des Eigentumsrechts gekämpft. Hauptsächlich deswegen war er von Liverpool nach London gezogen. Es klang nach etwas, was sie kaum interessieren würde. In ihren Augen wog menschlicher Schmerz sehr viel mehr als Entscheidungen über Wohlstand.
»Guten Tag, Mr. Pendreigh«, antwortete sie, fasste sich und setzte unbewusst ihren enormen Charme ein,
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