Gefährliches Geheimnis
nur eine Idee.«
Er holte tief Luft, als wollte er sie noch etwas fragen, dann überlegte er es sich jedoch anders.
»Wenn es irgendetwas mit ihrem Tod zu tun hat, sage ich es Ihnen«, versprach sie, den Blick immer noch gesenkt. Sie ertrug es nicht, den Schmerz in seinen Augen zu sehen.
»Bevor ich es jemand anderem sage, außer William.«
»Vielen Dank.« Wieder schien er noch etwas hinzufügen zu wollen, schwieg jedoch.
»Das Wartezimmer ist voller Menschen«, sagte sie und zeigte auf die Tür. »Wie heißt Ihre Putzfrau, damit sie weiß, dass ich mit Ihnen gesprochen habe?«
»Mrs. Talbot.«
»Vielen Dank.« Damit drehte sie sich um und ging durch das Wartezimmer und den Flur zum Eingang. Auf der Straße schaute sie sich nach einem Omnibus oder Hansom in Richtung Haverstock Hill um.
Sie stieg ein paar Schritte vor Kristians Haus aus und hatte kaum angeklopft, da öffnete Mrs. Talbot auch schon die Tür. Sie war dabei, den Fußboden in der Halle zu putzen, Mopp und Eimer standen ein paar Schritte hinter ihr.
Hester sprach sie mit ihrem Namen an, wünschte ihr
einen guten Morgen und erklärte ihr, was sie wollte. Misstrauisch begleitete Mrs. Talbot sie die Treppe hinauf, nachdem sie sorgfältig die Haustür zugemacht hatte. Sie blieb im Schlafzimmer stehen, während Hester die oberste Schublade aufzog und die etwa ein Dutzend Papiere durchsah, die darin waren. Es gab sogar zwei Briefe von Elissa, undatiert, aber die ersten ein, zwei Zeilen verrieten ihr, dass sie alt waren, aus einer Zeit, als die beiden sich sehr viel näher gestanden hatten als zum Zeitpunkt von Elissas Tod.
Erschöpfung in deren Gesicht. Ihre Haut war papiern und nahm den Brief heraus, den Charles ihr gegeben hatte, obwohl sie die Antwort bereits wusste. Die Schrift war mehr hingekritzelt, ein wenig größer, aber die charakte- ristischen Kringel und großzügigen Anfangsbuchstaben waren gleich.
Sie legte die Briefe nebeneinander auf die Kommode und wehrte sich einen grausigen, unbesonnenen Augen- blick lang gegen die Wahrheit, suchte nach Unterschieden, die ihr verrieten, dass die Schrift wohl ähnlich, aber nicht identisch war. Auf dem zweiten Brief waren die Schleifen länger! Ein »B« hatte einen Kringel, und das »Z« war anders. Doch sie wusste, dass es nicht stimmte. Zeit und Eile erweckten die Illusion eines Unterschieds. Es war Elissa, die Imogen zum Spielen verleitet hatte. Natürlich hatte sie sie nicht gezwungen, sondern nur eingeladen, aber Charles würde ihr wahrscheinlich Vorwürfe machen, als hätte sie sie verführt. So leicht, so instinktiv sprechen wir diejenigen, die wir lieben, von aller Schuld frei.
Hatte er gewusst, dass es Elissa war? Er hatte kein anderes Schriftstück zum Vergleich. Aber das brauchte er nicht. Er hatte zugegeben, dass er Imogen gefolgt war. Er musste nur eine der in den Briefen getroffene Verabredung abpassen und sehen, mit wem sie sich traf. Warum die
Lüge über die Drury Lane? Aus dem gleichen Grund wie bei anderen Lügen auch – um die Wahrheit zu verbergen.
»Vielen Dank«, sagte sie zu Mrs. Talbot. Deutlich sichtbar faltete sie Kristians Brief zusammen, legte ihn weg und schloss die Schublade, dann schob sie Charles’ Brief wieder in ihr Retikül.
»Ich werde Sie nicht länger stören.«
»Sie sehen unpässlich aus, Miss … und so, als würden Sie frieren, wenn ich das bemerken darf. Wenn Sie eine Tasse Tee möchten, der Wasserkessel steht auf dem Herd«, meinte Mrs. Talbot.
Hester zögerte. Sie war irritiert und wollte Charles nicht gegenübertreten und ihm die Nachricht überbringen müssen. Aber es war immer das Gleiche, egal, wann sie es ihm sagte, und eine heiße Tasse Tee würde sie wärmen und vielleicht ihren verkrampften Magen lösen. Sie sah in das müde Gesicht der Frau und empfand große Dankbarkeit.
»Ja, bitte. Lassen Sie uns eine Tasse Tee trinken.«
Mrs. Talbot entspannte sich, und ein überraschend freundliches Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Macht es Ihnen was aus, in die Küche zu gehen, Miss?«
»Nein, gerne«, sagte Hester ehrlich. Dort war es sehr viel wärmer als in dem eiskalten Schlafzimmer, und in dem einzigen möblierten Raum, dem Morgenzimmer, war es sicher ebenso kalt.
Anderthalb Stunden später wurde sie in der Stadt in Charles’ Büro geführt, was ihr aber erst gelang, nachdem sie unerbittlich darauf bestanden hatte.
Charles trat hinter seinem Tisch hervor, um sie zu begrüßen. »Was ist los?«, fragte er mit scharfer Stimme.
»Mein
Weitere Kostenlose Bücher