Gefährliches Geheimnis
war, erklärte Hester ihr, sie habe einen dringenden Botengang zu erledigen. Mit dem Brief in ihrem Retikül zog sie Hut und Mantel an und ging hinaus in den Regen. Es war ein ziem- lich weiter Weg von der Grafton Street zum Hampstead Krankenhaus, wo sie Kristian nach einem Zettel mit Elissas Handschrift fragen wollte, um diese zu vergleichen.
Den ganzen langen Weg über saß Hester in der Kutsche, rang die Hände und versuchte, ihre sich überschlagende Phantasie daran zu hindern, ihr Bilder von Imogen und Elissa zu zeigen, Charles Wut, als er es herausfand, sein Unverständnis und die ganze Gewalt und Tragödie, die
dem entsprungen sein konnte. Ihre Gedanken gingen in die eine und dann in die andere Richtung, von Hoffnung zu Schrecken und wieder zurück. Es war so leicht, den Gedanken ihren Lauf zu lassen, Bilder zu schaffen und Schmerz entstehen zu lassen.
Als sie am Krankenhaus ankam und ausstieg, war sie so angespannt, dass sie über den Bordstein stolperte und beinahe gestürzt wäre. Das war lächerlich! Sie hatte Schlachtfelder gesehen! Warum setzte es ihr so zu, dass ihr Bruder womöglich Elissa Beck umgebracht hatte?
Weil der Täter auch Sarah Mackeson getötet hatte. In einem Verbrechen, das aus Verzweiflung geschah, weil man jemanden, den man liebte, vor einer zerstörerischen Macht retten wollte, gab es ein Element der Gerechtigkeit. Aber der Mord an Sarah geschah nur, um sich selbst zu retten, war eine instinktive Zuflucht zu Gewalt, die einen anderen Menschen das Leben gekostet hatte.
Hester lief die Treppe hinauf und wäre fast mit einem Medizinstudenten zusammengestoßen, der herunterkam. Er warf ihr einen finsteren Blick zu und murmelte leise etwas. Sie blieb stehen, fragte den Pförtner, ob Dr. Beck im Hause sei, und bekam die freundliche Auskunft, dass dem so sei. Sie dankte ihm und eilte den Flur hinunter zum Wartezimmer der Patienten, wo bereits drei Menschen saßen, eingehüllt in ihre Schmerzen und ihre Furcht. Sie unterhielten sich ab und zu, um sich die Zeit und die Angst zu vertreiben.
Hester überlegte, ob sie das Vorrecht nutzen sollte, sich vorzudrängen, was ihr durchaus zustand. Dann sah sie in den Gesichtern eine Härte, die weit jenseits ihrer eigenen lag, und beschloss zu warten.
Auch sie unterhielt sich, um die Zeit auszufüllen, erfuhr etwas über die Menschen und erzählte ihnen ein wenig
von sich, bis sie dran war und mehrere Leute nach ihr warteten.
Kristian war verblüfft. »Hester? Sie sind doch nicht krank? Sie sehen sehr blass aus«, sagte er besorgt. Ange- sichts seines eigenen aschfahlen Gesichts und seiner einge- sunkenen Augen hätte die Bemerkung zu jedem anderen Zeitpunkt eine gewisse Ironie nicht verhehlen können.
»Nein, vielen Dank«, sagte sie schnell. »Ich mache mir nur Sorgen, wie wir alle.« Es hatte keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden. »Ich habe einen Brief, und ich möchte die Handschrift vergleichen, um herauszufinden, von wem er stammt, denn er trägt keine Unterschrift. Ich hoffe, ich irre mich, aber ich muss einfach sichergehen. Haben Sie irgendetwas, was Elissa geschrieben hat? Egal was, ein Wäschezettel würde vollkommen genügen.«
Ein Hauch von Humor erfüllte seine Augen und verschwand wieder. »Elissa hat keine Wäschezettel geschrieben. Ich denke, mir fällt was ein, aber das ist zu Hause, nicht hier.«
»Das macht nichts, wenn Sie mir erlauben, danach zu suchen!«
»Was ist das für ein Brief, den Sie damit vergleichen wollen?«
Sie wich seinem Blick aus. »Ich würde es lieber nicht sagen … bitte … wenn es nicht unbedingt sein muss.«
Sie schwiegen eine Minute. Nicht einmal Krankenhaus- geräusche drangen durch die dicken Wände in den Raum.
»Sie hat mir vor einiger Zeit einen Brief geschrieben, er liegt in der obersten Schublade der Kommode in meinem Schlafzimmer. Ich … ich möchte ihn zurückhaben …« Seine Stimme brach, und er schluckte, als er versuchte, sie zu kontrollieren.
»Ich muss ihn nicht mitnehmen«, sagte sie schnell. »Ich muss ihn auch nicht lesen – nur die Handschriften vergleichen. Womöglich sind sie verschieden, und es bedeutet überhaupt nichts.«
»Und wenn es die Gleiche ist?«, fragte er heiser. »Be- deutet das, dass Elissa etwas … Falsches gemacht hat?«
»Nein.« Sie leugnete es, dann dämmerte ihr, dass das eine Lüge war. Süchtig zu sein war schmerzlich, aber einen anderen absichtlich mit hineinzuziehen betrachtete sie als zutiefst falsch. »Ich kann mich irren. Es ist
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