Gefährliches Geheimnis
seine Augen leidenschaftlich hatte glühen lassen? War es das Wissen, dass sie es spürte, sich der Sache ebenso widmete wie er, das ihn die Hand nach ihr hatte ausstrecken lassen?
Er hatte seine Ehe niemals, auch nicht durch ein Wort, verraten. War es Ehre, die ihn gebunden hatte und für die sie ihn so sehr bewunderte? Oder bedeutete sein Schwei- gen nichts, nicht einmal unausgesprochene Einsamkeit?
Sie schaute in den Spiegel und sah sich, wie sie immer gewesen war: ein wenig zu klein, eindeutig zu breit und mit einem Gesicht, das ihre Freunde intelligent und voller Charakter genannt hätten. Menschen, die ihr gleichgültig gegenüberstanden, hätten es herablassend als liebens- würdig aber reizlos beschrieben. Sie hatte eine zarte Haut und immer noch gute Zähne, aber sie war nicht hübsch, und die Spuren des Alters waren allzu offensichtlich. Wie hatte sie so eitel oder so dumm sein können, sich einzubilden, ein Mann, der mit Elissa verheiratet war, würde etwas anderes als berufliche Achtung für sie empfinden, den gemeinsamen Wunsch, einen kleinen Teil des Schmerzes in der Welt zu lindern?
Wenigstens hatte sie niemals laut darüber gesprochen – obwohl das aus Anstand geschehen war und nicht aus Mangel an Gefühlen. Aber das hatte Kristian nicht gewusst.
Heute mussten persönlicher Stolz und jegliche Gefühle hintangestellt werden. Es gab praktische Arbeit zu tun, und es galt, sich der Wahrheit zu stellen. Sie würde ins
Gefängnis gehen und Kristian besuchen, ihm von Fuller Pendreighs Angebot berichten sowie von Monks Bereit- schaft, weiter nach einer alternativen Theorie zu suchen, die man den Geschworenen präsentieren konnte. Sie hatte be- reits einen Plan gefasst, und wenn sie auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg haben wollte, brauchte sie Kristians Kooperation. Sie mochte die Kunst der Romanze nicht beherrschen, aber sie konnte ausgezeichnet organisieren, und es hatte ihr noch nie an Mut gefehlt.
Auf dem Weg zum Polizeirevier beschloss sie, zuerst mit Runcorn zu sprechen, falls er da war und sie empfangen würde, obwohl sie nicht vorhatte, sich abspeisen zu lassen.
Wie sich zeigte, war kein Druck notwendig, und sie wurde mit einigem Respekt die schmale Treppe nach oben in einen Raum geführt, der ganz offensichtlich für sie sauber gemacht worden war. Stapel von Papier, die keine Beziehung zueinander hatten, lagen auf der Ecke des Re- gals, und Bleistifte und Federn waren zusammengesammelt und in eine Tasse gestellt worden, damit sie nicht überall herumlagen. Ein sauberes Blatt Löschpapier bedeckte die Kratzer und Schrammen der Schreibtischplatte. Bei jeder anderen Gelegenheit wäre sie leicht amüsiert gewesen.
Runcorn erhob sich und nahm beinahe Habachtstellung ein. »Guten Morgen, Lady Callandra«, sage er befangen.
»Was kann ich für Sie tun? Bitte … bitte, nehmen Sie Platz.« Er wies auf den abgenutzten Stuhl gegenüber seines Tisches und wartete achtsam, bis sie sich gesetzt hatte, bevor auch er sich setzte. Er sah aus, als fühlte er sich unbehaglich, als würde er gerne etwas sagen, wüsste aber nicht, wie er anfangen sollte.
»Guten Morgen, Mr. Runcorn«, antwortete sie. »Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit widmen. Ich vermute, dass Sie sehr beschäftigt sind, daher will ich gleich zur Sache kommen. Mr. Monk hat mir gesagt, dass Sie ermitteln, ob
Mr. Max Niemann zum Zeitpunkt des Mordes an Mrs. Beck hier in London war und ob er in letzter Zeit bei anderen Gelegenheiten hier war. Ist das korrekt?«
»Ja, Madam.« Runcorn war sich nicht ganz sicher, welches die korrekte Anrede war, wie sein Zögern zeigte.
»Und, war er hier?« Es hatte keinen Zweck, Ausflüchte zu machen. Sie spürte, dass ihr Herz in den Sekunden, bevor er antwortete, wie wild in ihrer Brust klopfte. Sie hatte kein Recht, danach zu fragen. Bitte, Gott, lass Niemann hier gewesen sein! Es musste einen anderen Verdächtigen geben, eine andere Lösung. Vor einer Woche hatte sie nach jemand anderem gesucht, der schuldig war, jetzt wäre sie dankbar gewesen für die geringste Chance, an die sie sich hätte klammern können.
»Ja«, erwiderte Runcorn. »Er war, soweit wir wissen, im letzten Jahr dreimal in London.« Er sah sehr unglücklich aus. »Aber niemand sah ihn mit Mrs. Beck streiten. Sie waren alte Freunde aus der gemeinsamen Zeit in Wien. Es spielt keine Rolle für den Fall. Es wäre sehr schön für uns alle, wenn wir einem fremden Gentleman die Schuld geben könnten, aber es ergibt keinen
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