Gefährliches Geheimnis
Respekt für seine Stärke, dass er beabsichtigte, vor Gericht zu gehen und einen Fall durchzufechten, bei dem sein einziges Kind das Opfer war. Aber Fuller Pendreigh hätte seine gegen-
wärtige Stellung nicht erreicht, besäße er nicht einen großen Vorrat an innerer Stärke und bemerkenswerter Selbstdisziplin. Vielleicht war allein sein Erscheinen vor Gericht der größte Glücksfall für Kristian.
Sie besprachen noch etwa eine halbe Stunde Einzelheiten und Ideen, dann verließen sie Pendreigh, damit er über die Pläne nachdenken konnte, die in seinem Kopf bereits Form annahmen – Leute, mit denen er Kontakt aufnehmen wollte, Zeugen, die vorgeladen werden mussten, Eventualitäten, die man berücksichtigen oder vor denen man sich hüten musste.
Callandra nahm ihre eigene Kutsche nach Hause, und
Monk und Hester hielten einen Hansom an.
»Was glaubst du wirklich, William?«, fragte Hester, als sie in der Droschke saßen.
Er zögerte. Sollte er versuchen, sie zu schützen? Wollte sie das? Er wusste, dass sie Gefühle hatte, an die er nicht herankam und die er nicht verstand, weil sie mit alten Loyalitäten gegenüber Charles zu tun hatten, Erinnerungen an familiären Kummer und Verlust, und die Leidenschaft, die Schwächeren zu beschützen. Er begriff beschämt, dass es in ihm keine Besorgnis um einen anderen Menschen gab. Alles drehte sich nur um seinen Stolz, seinen Wunsch, res- pektiert zu werden und erfolgreich zu sein. Er war zutiefst froh, dass Hester das nicht so sehen konnte wie er selbst.
»William?«
»Ich weiß nicht, was ich glaube«, antwortete er. »Es ginge uns besser, wenn wir davon ausgehen könnten, dass Max Niemann etwas damit zu tun hat, aber es gibt nur sehr wenig, was darauf hinweist. Er sagte auf der Beerdigung, er sei aus Paris gekommen, weil er dort von ihrem Tod gelesen hatte. Und er lebt, soweit wir wissen, in Wien.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass Kristian Panik
bekommen und vor lauter Verzweiflung um sich geschlagen hat«, sagte sie leise und starrte in die Schatten.
»Aber nicht, dass er Sarah Mackeson getötet hat. Das werde ich nie glauben!« Tapfere Worte, die mit zitternder Stimme gesprochen worden waren und unter Tränen, die kaum zu verbergen waren.
Monk disputierte nicht. Er griff nach ihrer Hand und spürte, dass ihre Finger sich um seine schlossen. Sie waren kalt, weil es in dem Hansom eisig war, und er spürte die Verzagtheit ihres Herzens ebenso wie ihren festen Griff.
9
Die Verabredung mit Fuller Pendreigh war Callandra wegen der Selbstkontrolle, die notwendig war, um ihre Gefühle zu verbergen, recht schwer gefallen. Für ihn war sie nicht mehr als eine gute Freundin und Kollegin, die helfen wollte und von der ganzen Angelegenheit natürlich sehr mitgenommen wurde. Und das musste sie in seiner Vorstellung auch bleiben.
Als sie Lincoln’s Inn verließ, war sie verblüfft, wie sehr sie zitterte, nachdem die Anspannung nachließ. Ihr Kopf pochte, und ihre Hände waren trotz der Kälte feucht.
Sie hatte Kristian seit Elissas Tod nicht allein gesehen, außer für kurze Augenblicke im Korridor des Kranken- hauses, wo sie immer damit rechnen mussten, dass jeden Moment jemand vorbeikam, und nur über Nichtigkeiten gesprochen hatten. Callandra hätte ihm gerne hundert andere Dinge gesagt, und die Enttäuschung darüber, all das für sich behalten zu müssen, war fast unerträglich. Er tat ihr Leid wegen seines Schmerzes und seines Verlusts. Sie wünschte sich, er würde sich mit mehr Leidenschaft zur Wehr setzen, sich verteidigen, wenigstens offen sprechen, seinen Kummer teilen, statt ihn wegzusperren.
Nichts davon hatte sie gesagt. Sie hatte ihm all die Zeit und die Privatheit gewährt, die er brauchte, hatte ihn beobachtet und mit ihm gelitten. Die Kränkung, aus- geschlossen zu sein, hatte sie hintangestellt, ebenso wie die Unsicherheit, nicht zu wissen, was er für Elissa empfunden hatte, und dass er durch Schweigen darüber hinweggetäuscht hatte, wie sie war.
Dann hatte sie Selbstzweifel bekommen. Sie musste sich deutlicher an die langen Stunden erinnern, die sie zusam-
men in dem Fieberkrankenhaus in Limehouse verbracht hatten, wo sie den ganzen Tag und oft auch die ganze Nacht gearbeitet hatten, nur mit dem einen leidenschaftlichen Ziel, Leben zu retten und die Ansteckung einzudämmen. Hatte sie sich der Illusion hingegeben, ihr Band sei persönlicher Natur und mehr als das gemeinsame Verständnis für das Leiden? War es Mitleid mit den Kranken, das
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