Gefährliches Spiel der Versuchung
»Sie gehören nicht zu jenen zartbesaiteten Fräulein, die schon bei dem bloßen Gedanken an Gewalt in Ohnmacht fallen, nicht wahr?«
»Nein, Mylady. Wie bereits erwähnt, ich bin nicht besonders empfindlich«, erwiderte Shannon trocken und glaubte, ein Fünkchen Anerkennung aus den Worten der Lady herausgehört zu haben.
»Aber kein Zweifel, als gut ausgebildete Gouvernante setzen Sie bestimmt auf die Einhaltung von Vorschriften, nicht wahr?«
Ist das hier die Inquisition? Es gab zweifellos genügend tödlich aussehende Werkzeuge an den Wänden, die eine kriegerische Stimmung erzeugten. Was genau wollte die Lady wissen?
Shannon war sich bewusst, dass sie es sich schon mit einem einzigen Fehltritt verderben konnte, und fasste den Entschluss, sich vorsichtig nach vorn zu tasten. »Vorschriften und Regeln bilden den notwendigen Rahmen. Aber ich bin nicht so streng, dass ich mich einer gewissen Biegsamkeit verweigern würde.«
»Hm.« Die zarten Schultern entspannten sich kaum merklich. »Das freut mich zu hören, Miss Sloane. Meine Enkeltochter ist ein lebhaftes Kind, außergewöhnlich wissbegierig, wunderbar kraftvoll. Es wäre mir verhasst, wenn ich zusehen müsste, wie jemand versucht, ihr den Geist auszutreiben oder gar zu ersticken.« Die Witwe stemmte eine Faust auf die Hüfte und schob das Kinn vor, bevor sie Shannons Blick auffing. »Mag sein, dass die jungen Ladys aus London mustergültige Exemplare von Sitte und Anstand darstellen. Aber wenn Sie mich fragen, hat man ihnen jegliche Lebendigkeit und jegliche Farbe aus dem Leib getrieben. Diamanten nennt man sie. Ha! In meinen Augen sehen sie aus wie überpolierte spröde Glassplitter. Eine wie die andere.«
Shannon verkniff sich ein Lächeln. »Ich bin sehr dafür, ein Mädchen zu ermuntern, sich ein wenig Farbe zuzulegen und eine Individualität zu entwickeln.«
Seufzend registrierte die Witwe den strengen Schnitt des eintönigen Kleides der Gouvernante. Ihre Miene gab zu verstehen, dass sie sich in dieser Hinsicht keine großen Hoffnungen machte.
»Es gibt nicht viele Arbeitgeber, die solche aufgeklärten Ansichten darüber hegen, wie ein weibliches Wesen auftreten sollte«, meinte Shannon weich. »Besonders eine Gouvernante. Ich hoffe, Ihnen schon bald beweisen zu können, dass ich nicht so knochentrocken bin, wie Sie befürchten. Ich versichere Ihnen, dass die Interessen Ihrer Enkeltochter bei mir bestens aufgehoben sind.«
»Ich war ruppig und habe Sie reichlich überrannt, nicht wahr?« Lady Octavia stützte sich recht beschwerlich auf ihren Stock, hob ihn plötzlich mit einer kleinen Verbeugung an. »Wie auch immer, wozu wird man alt, wenn man nicht einmal ein wenig boshaft sein darf?«
Shannon erschien das Glitzern im Blick der Witwe eher erleichtert als zerknirscht.
»Kommen Sie schon, gutes Kind, es sind nur noch ein paar Ecken und Winkel, die wir in diesem modrigen Irrgarten durchstreifen müssen.« Tap, tap. »Vielleicht passen Sie am Ende doch noch hier rein.«
»Zucker, Mr. Oliver?« Lady Octavia linste über das verzierte silberne Teeservice, das die Haushälterin gerade eben auf den Tisch gestellt hatte.
»Ja, Mylady.« Orlov senkte seine Stimme zu einem vertraulichen Flüstern. »Reichlich, fürchte ich. Ein Laster, aber so ist es nun mal.«
»Ihr Geheimnis ist bei mir bestens aufgehoben, junger Mann.« Die Witwe reichte ihm die Dose, zusammen mit einem Teller gebutterten Zwiebacks. Er war noch warm, kam direkt aus dem Ofen. »Falls das Ihre schlimmste Sünde ist, dann haben Sie allerdings ein viel zu tugendhaftes und langweiliges Leben geführt.«
Orlov lächelte.
»Nun, wie auch immer ...« Die Lady beobachtete ihn durch die Dampfwolken, die aus dem Teekessel aufstiegen. »Mir will scheinen, dass Sie keinen einzigen langweiligen Knochen im Leib tragen.«
Orlov hörte, wie Shannon angestrengt versuchte, das Glucksen zu unterdrücken. »Ich hoffe, dass meine Person solch peinlicher Untersuchung standhalten kann. Denn ich würde es zutiefst bedauern, Sie enttäuschen zu müssen.«
Lady Octavia machte den Eindruck, als wollte sie mit der harmlosen Plauderei fortfahren, als ihre Haushälterin sich näherte und ihr ein paar Worte ins Ohr flüsterte.
»Ah.« Die Witwe faltete die Serviette zusammen und erhob sich mithilfe ihres Stocks. »Wenn Sie beide mich entschuldigen wollen. Mrs. Argyle und ich müssen die neuen Arrangements für den Haushalt besprechen.«
Die beiden Frauen zogen sich ans andere Ende des Salons zurück
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