Gefährliches Spiel der Versuchung
und überließen es Orlov, seine ersten Eindrücke der Lage mit Shannon zu vergleichen. Ohne Warnung neigte er seinen Stuhl ein wenig näher zu ihrem und murmelte: »Das Haus ist wie ein verdammtes Sieb. Mit all den Fenstern und schnörkeligen Alkoven gibt es viel zu viele Wege nach drinnen und draußen.«
Shannon nickte. »Und es gibt nur wenige Angestellte. Eine Köchin, eine Haushälterin, ein Kindermädchen, einen Burschen - und alle sehen so aus, als wären sie schon knapp achtzig. Hin und wieder kommt ein Mädchen aus dem Dorf herauf, das beim Putzen hilft, zusammen mit zwei Leuten aus dem Dorf, die sich um die Gärten kümmern. Aber das ist schon alles.«
»Es ist mir gelungen, einen kleinen Spaziergang über das Anwesen zu machen. Wie wir in der Kutsche schon vermutet haben: Es gibt kaum eine bessere Deckung als die umliegende Heidelandschaft, falls jemand versucht, ungesehen zum Haus zu gelangen.« Er ließ einen tiefen Seufzer aus. »So wenig es uns gelingen wird, die Kinder samt Lady Octavia in einem engen Bereich des Hauses einzusperren, so sehr ist es auch ausgeschlossen, sie angemessen zu bewachen. Das Anwesen ist zu groß, zu weitläufig.«
»Die Witwe scheint mir nicht zu denen zu gehören, die es freundlich auffassen, wenn man ihnen die Freiheit beschneidet.« Shannon verzog das Gesicht. »Außerdem hat Lynsley unmissverständlich ausgedrückt, wie wenig er es wünscht, sie mit einem Hinweis auf unsere wahren Identitäten zu alarmieren. Oder mit der Gefahr, in der das Haus schwebt.«
»Sie alarmieren? Ha!« Eigentlich gab es keinen Grund zum Lachen, aber Orlov konnte sich ein gequältes Kichern nicht verkneifen. »Nun, die alte Streitaxt würde sicher zu einer der verrosteten Donnerbüchsen in der Waffensammlung greifen und den Mann höchstpersönlich auf die Zinnen schicken, wenn es gilt, das Schloss zu verteidigen.«
Die Vorstellung entlockte Shannon ein Lächeln. »Ich fürchte, Sie haben recht. Sie scheint mehr Leben in sich zu haben als manche Ladys, die nicht einmal halb so alt sind wie sie. Sie hat bereits angedeutet, dass sie mich ein wenig zurückgeblieben findet.« Shannon zupfte an ihren Röcken, die, wie er feststellte, in scheußlichem Braun gehalten waren.
Kein Wunder, dass der alten Witwe der Mut gesunken war, als sie die neue Gouvernante kennengelernt hatte. Orlov murmelte ein paar Worte auf Russisch und war dankbar, dass Shannon ihn nicht um eine Übersetzung bat. »Wir werden darum bitten müssen, dass unsere Unterkünfte in den Flügel verlegt werden, in dem die Kinder untergebracht sind.«
»Das könnte zu einem Problem werden.« Sie biss sich auf die Lippe, was oft vorkam, wenn sie sich über ein ganz besonders heikles Problem den Kopf zerbrach. »Sitte und Anstand, verstehen Sie? Obwohl Lady Octavia eine ausgeprägte Abneigung gegen das Diktat der Etikette zu hegen scheint.«
Aus Gewohnheit rieb er sich das Kinn, fing sich aber gleich wieder. »Vielleicht können wir das zu unserem Vorteil nutzen.« Das scharfe Klopfen des Spazierstocks auf dem Holzboden kündigte die Rückkehr der Witwe an; Orlov drehte sich von Shannon weg. »Überlassen Sie die Lady mir.«
»Wenn überhaupt jemand sie entwaffnen kann, dann Sie.«
Waren die Worte wirklich als Kompliment gemeint? Oder schwang doch ein scharfer untergründiger Ausdruck in ihnen mit? Shannon starrte mit unlesbarem Gesichtsausdruck in den Tee.
Orlov blieb keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Denn als er sich erhob, winkte Lady Octavia abweisend in Richtung des gepolsterten Stuhls. »Jetzt, nachdem Sie sich mit einer Unterhaltung gestärkt haben, sollten Sie vielleicht die Kinder kennenlernen.«
»Prescott, verbeug dich vor Mr. Oliver! Emma, zeig Miss Sloane, dass du weißt, wie ein ordentlicher Knicks auszusehen hat! Du möchtest doch nicht, dass die beiden glauben, ihre Mündel wären Wilde, oder?«
»Nein, Grandmama«, tönte es pflichtbewusst im Chor. Ungeachtet dessen entging Shannon nicht der Seitenblick, den die Geschwister wechselten. Sie rollten mit den Augen und zogen eine Grimasse, die keine besondere Begeisterung über das neue Arrangement ausdrückte.
»Mein Enkelsohn ist recht tüchtig in Mathematik und Naturwissenschaften«, fuhr die Lady fort, »für einen kleinen Kerl von elf Jahren. Ich befürchte allerdings, dass er seine Studien in Geschichte und Literatur vernachlässigt hat.«
»Der Mangel kann leicht behoben werden«, erwiderte Orlov.
Shannon bemerkte, dass der neue Lehrer sich mit
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