Gefährliches Spiel der Versuchung
erschöpft. Ich ziehe es vor, mich für die Nacht zurückzuziehen.«
Orlov verbeugte sich und bot seinen Arm.
»Meinetwegen müssen Sie die Gesellschaft nicht verlassen, junger Mann. Ich kann mich auch auf meinen Stock stützen.«
»Ich hatte ebenfalls vor, mich zurückzuziehen. Denn ich muss noch einige Abschnitte der Odyssee für Master Prescotts Unterricht durchsehen.«
Die Talcott-Schwestern wirkten enttäuscht. »Nun, wir hatten gehofft, dass Sie sich uns für eine Partie Whist anschließen«, meinte Annabelle. »Mit unseren gewöhnlichen Partnern sind wir alle viel zu vertraut.«
Der Dampf aus der Teekanne verdunkelte Lady Sylvias Reaktion. »Spielen Sie, Miss Sloane?«
»Karten? Nein, nicht besonders gut.« Auf dem Weg zu der alten Feuerwaffe, die an einem Bügel an der Wand hing, war Shannon schon an dem Tisch vorbeigekommen. Mit der Hand strich sie über den lackierten Lauf der Waffe. »Monsieur, Sie haben sich vorhin so überaus kundig über die Anfertigung des Gewehrs geäußert. Darf ich Sie bitten, nochmals zu erklären, wie der Feuermechanismus funktioniert?« Um ihre Bitte zu unterstreichen, klimperte sie mit den Wimpern. »Ich gestehe, dass ich in solcherlei Dingen vollkommen ahnungslos bin. Ich kann kaum entscheiden, wo Anfang und wo Ende ist.«
Mit anderen Worten: Der kriegerische Falke konnte sich in ein flirtendes Täubchen verwandeln? Orlov entdeckte diese Seite zum ersten Mal an ihr, war hin und her gerissen zwischen Amüsement und Irritation.
»Aber selbstverständlich, Mademoiselle.« Der Comte lächelte über das ganze Gesicht, kam zu ihr und rückte ein wenig näher als nötig. »Sehen Sie hier ...«
»Hmm.« Kaum befanden sie sich im Flur, hatte Lady Octavia sich genügend erholt, um mit vertrautem Schwung ihre Meinung zu sagen. »Anderntags hat Miss Sloane ganz gewiss nicht solche Unwissenheit zur Schau gestellt. Das war, als ich beobachtet habe, wie sie die Waffe vom Bügel genommen und auf ihre Funktionstüchtigkeit überprüft hat.« Sie hielt kurz inne. »Und unterstellen Sie mir ja nicht, dass ich mein Lorgnon vergessen hätte, es sei denn, Sie wünschen, dass ich meinen Stock in einen lebenswichtigen Teil Ihrer Anatomie bohre.«
»Sie sind einfach viel zu klug«, murmelte er. »Ich würde es niemals wagen, Ihre Sehkraft oder die Geschicklichkeit Ihrer Hand infrage zu stellen.«
»Ich frage mich nur, warum sie so viel Aufwand betreibt, um ihr Talent an Feuerwaffen zu verbergen«, murmelte die Witwe. Das Kerzenlicht spiegelte sich in ihrem Lorgnon. Die Hand auf seinem Ärmel fühlte sich plötzlich kalt an.
»Sie hat sicher ihre Gründe.«
»Welche, wie ich annehme, Sie mir nicht verraten dürfen?«
Orlov bemühte sich, Lüge und Wahrheit mit einem feinen Strich zu trennen. »Ich kann nicht behaupten, dass die junge Lady mir voll und ganz vertraut. Wir sind keine ... intimen Freunde.«
»Hmm. Ich frage mich, warum ein so kluger und charmanter Mann wie Sie noch keine Möglichkeit ersonnen hat, ihren Schutzschild zu durchdringen.« Ihre Schritte schienen ein wenig mühsam, als sie die Treppe hinaufstieg. »Nun, ich fürchte, damit müssen Sie selbst zurechtkommen. Glauben Sie bloß nicht, dass ich die Absicht habe, Sie in mein Boudoir einzuladen.« Mit dem Stock stieß sie auf seine Zehen. »Fort mit Ihnen, Mr. Oliver. Ich finde meinen Weg auch allein.«
»... sehen Sie, dann drücken Sie hier den Abzug, der Flintstein trifft auf die Pfanne, und voilà! Das Schießpulver geht in Rauch auf.« Die Finger des Comte schlossen sich um ihre, bevor er sie an den sanft geschwungenen Stahl hinunterzog. »Hier. Versuchen Sie mal.«
Shannon musste ihre jungfräuliche Zurückhaltung nicht vortäuschen. Obwohl die Academy sämtliche Schülerinnen in der Kunst der Verführung ausbildete, hatte sie sich immer unbehaglich gefühlt, wenn es um Flirts und Tändeleien ging. Ihre Zimmergenossin Sofia dagegen besaß ein angeborenes Talent, Männer um den kleinen Finger zu wickeln. Sie fühlte sich wesentlich wohler, wenn sie die Hand um einen stählernen oder ledernen Griff schließen konnte.
Kriegerin oder Frau. In ihr schien die Verbindung zu scheitern.
Bestimmt war Orlov sich ihres Mangels an Charme bewusst. Und doch, dachte Shannon trocken, hat er mich mit seinem knappen Befehl sicher nicht auffordern wollen, mit De Villiers mitten im Salon eine Rauferei anzufangen. Angesichts ihrer beschränkten Möglichkeiten blieb ihr gar nichts anderes übrig, als mit ihren weiblichen Reizen zu
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