Gefährliches Spiel
entfernte sich diskret. Eine Minute später hörte man den kraftvollen Motor der Limousine starten, und das große Auto fuhr weg.
Wassily wartete, bis sie hörten, wie das Auto losfuhr, machte dann einen Schritt auf sie zu und nahm sie in seine Arme. Ihre eigenen Arme hoben sich automatisch.
Er war die erste Person, die sie berührte, seit … seit Nick. Auf der Beerdigung hatte sie von niemandem umarmt werden wollen und selbst diese sinnlosen Luftküsschen vermieden. Selbst Onkel Franklin schien verstanden zu haben, dass sie nicht angefasst werden konnte, weil sie sonst in eine Million Stücke zersprungen wäre. Und Tante Vera – der Armen war kaum bewusst gewesen, was überhaupt vorging.
Also hatte niemand sie umarmt, und ihr wurde erst jetzt bewusst, wie verzweifelt sie es brauchte. Diese letzten Tage hatte sie auf einem anderen Planeten verbracht, weit weg vom Rest der Menschheit. Ein großer, dunkler, luftloser Planet mit unermässlicher Schwerkraft und ohne Leben. Wassilys starke Umarmung brachte sie zurück auf die Erde und unter ihresgleichen.
Er war ein Mann, der großen Schmerz kannte. Er hielt sie, als wollte er ihr einen Teil ihres eigenen Schmerzes abnehmen.
„Meine dushecka “, murmelte er, den Kopf über sie gebeugt.
Sein schwerer Mantel war warm vom Auto, genau wie die Mulde zwischen seiner Schulter und seinem Hals. Er drückte ihren Kopf vorsichtig fester an seine Schulter. Ihre Wange schmiegte sich an den weichen Kaschmir seines Mantels, ihre Nase an die warme Haut seines Halses.
„Weine, dushka “, befahl er sanft. „Das ist das Beste. Lass es raus.“
Ihr Herz schlug so schnell, dass sie dachte, es würde ihr aus der Brust springen. Ein hoher, klagender Laut tönte durchs Zimmer, und sie brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, dass er von ihr kam. Ihre Lippen verschlossen sich über dem Laut, aber er ließ sich nun nicht mehr zurückhalten. Sie atmete schluchzend ein, einmal, zweimal, und dann brach sie zusammen – vollkommen und komplett.
Wie konnte sie überhaupt noch Tränen in sich haben? Sie musste sie doch schon längst alle vergossen haben – Eimer, Seen, Ozeane von Tränen.
Charity weinte, als hätte sie noch nie zuvor geweint – eine mächtige Welle der Verzweiflung. Sie wurde von Schluchzern geschüttelt, zitterte und bebte. Die Tränen schossen aus ihren Augen. Sie zitterte so sehr, dass sie zu Boden gefallen wäre, wenn er sie nicht gestützt hätte.
Wassily hielt sie fest, während sich der Weinkrampf austobte und das heiße Gift der Trauer durch ihren Körper floss. Ihr Klagen hallte rau durch das stille Haus.
Sie weinte, bis ihre Kehle schmerzte und ihre Lungen brannten, bis sie dachte, ihre Knochen würden von ihrem Zittern zerbersten. Sie klammerte sich an den Kragen von Wassilys Mantel, durchnässte seine Schulter.
Die Wirkung des heißen Gifts ließ zumindest für den Moment nach, und Charity blieb verwirrt zurück, klammerte sich mit weichen Knien an Wassily.
„Komm, meine Liebe. Setzen wir uns.“ Es waren die ersten Worte, die er sagte, seit der Weinkrampf begonnen hatte. Sie war unendlich dankbar, dass er keine Platitüden von sich gegeben hatte, während sie sich die Seele aus dem Leib geheult hatte.
Wassily führte sie zum Sofa hinüber, setzte sie hin, knöpfte umständlich seinen Mantel auf und nahm neben ihr Platz. Wieder legte er seinen Arm um sie und küsste sie sanft auf die Stirn und noch einmal auf die Wange. Seine Lippen waren warm und trocken.
Charity wusste, dass sie diese Gesten der Zuneigung schätzen würde – irgendwann später, wenn die heftigste Phase des Schmerzes vorüber war. Doch im Moment war es unmöglich, sich so eine Zeit vorzustellen.
Er berührte nur selten andere Menschen. Er schien ihr immer so selbstgenügsam, als wenn er keine menschliche Wärme brauchte. Zufrieden mit seiner Musik und den Büchern und mit was immer es war, was er den ganzen Tag in seiner riesigen wunderschönen Villa tat. Sie hatte ihn noch nie in weiblicher Begleitung gesehen, und bei vielen der musikalischen Soireen hatte tatsächlich sie selbst als Gastgeberin fungiert.
Plötzlich fragte Charity sich, ob Wassily wohl ein Liebesleben hatte.
Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass es so sein könnte. Vielleicht weil sie von seinem Ruhm geblendet oder auch unfähig gewesen war, unter die Narben auf den Mann darunter zu sehen. Er war auch gar nicht so alt. Die Jahre im Gefangenenlager hatten ihn zwar schrecklich altern lassen, aber eigentlich
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