Gefährliches Talent: Kriminalroman
Frühstücks, während sie ihre Gedanken sammelte. »Im Grunde geht es darum, sich in den Künstler hineinzuversetzen: zu sehen, was er gesehen hat; zu verstehen, was er ausdrücken will, und zu untersuchen, wie er es ausgedrückt hat – die Farben, die Komposition, der Farbauftrag –, und ob das alles auch zu dem fraglichen Künstler passt.«
Chris runzelte die Stirn. »Aber was ist daran so besonders? Machen das nicht alle Kunstexperten so?«
»Ja, aber wenn man den richtigen Blick hat, macht man es fast instinktiv. Zumindest kommt es einem so vor. Man muss keine Bücher wälzen oder das Bild mit anderen Arbeiten des Künstlers vergleichen oder etwas in der Art. Man weiß es einfach.«
Chris sah sie misstrauisch an. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Alix, ich vertraue Ihnen ja, aber … also das hört sich für mich ein bisschen nach einer Zirkusnummer an. Wie Hokuspokus. Ich meine: Sie
wissen
es einfach? Das klingt nun wirklich nicht sehr vertrauenerweckend.«
»Mit der Meinung sind Sie nicht allein«, sagte Alix und lachte. »Nur wenige Menschen haben dieses Talent. Man kann es nicht lernen, allerdings braucht es Schulung, damit es auch funktioniert. Ich habe es anscheinend von meinem Vater geerbt.«
»Na ja, aber ehrlich … Sie wissen es einfach?« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist einfach nicht …«
»Also gut … Wenn ich Ihnen zwei Handschriftenproben zeige, eine von Ihnen und eine von jemand anderem, dann wären Sie doch in der Lage, Ihre eigene Schrift zu erkennen, oder nicht?«
»Klar, das kann doch jeder.«
»Genau. Aber woher wissen Sie denn so genau, welche Schrift Ihre ist?«
»Mal sehen …« Chris holte einen Kugelschreiber heraus, kritzelte ein paar Wörter auf eine Serviette und betrachtete sie eingehend. »Okay, meine Handschrift zeichnet sich durch gewisse Besonderheiten aus. Beim g mache ich unten eine Schlaufe, aber beim y nicht. Das ist sicher ungewöhnlich. Und auf meine i mache ich meistens einen kleinen Kreis, aber nicht immer, und …«
Alix riss ihr die Serviette weg. »Und ohne das hier, also eine Vergleichsprobe, wären Sie nicht in der Lage, Ihre Handschrift zu erkennen?«
»Doch, natürlich, ich würde sie auf Anhieb erkennen. Ich wollte nur erklären …«
»Aber
woran
würden Sie sie auf Anhieb erkennen?«
»Ich weiß nicht, woran, Alix, ich würde sie halt erkennen.«
»Sehen Sie«, sagte Alix, »Sie haben soeben den Kennerblick beschrieben. Bei Ihrer eigenen Schrift haben Sie den auch. Jeder hat ihn. Es gibt hunderte Merkmale, an denen Sie Ihre eigene Schrift erkennen – g mit Schlaufe, y ohne Schlaufe –, aber Sie müssen sie nicht bewusst einzeln durchgehen. Es passiert automatisch und unmittelbar. Sie schauen einmal kurz hin … und
Sie wissen es einfach
.«
Chris’ Stirnrunzeln war verschwunden. »Verstehe. Und das können Sie tatsächlich auch bei Bildern?«
»Nicht bei jedem Künstler, aber bei ziemlich vielen, und Georgia O’Keeffe ist anscheinend eine von denen, für deren ästhetisches Empfinden ich sensibel bin.«
»Ich frage lieber erst gar nicht, was das heißen soll.«
»Gut, ich weiß es nämlich auch nicht so genau. Ich weiß, dass es so ist, aber ich versuche lieber erst gar nicht, es zu erklären oder es genau zu analysieren. Es ist, als hätte man eine Gans, die goldeneEier legt. Es wäre nicht sehr klug, sie zu schlachten, um herauszufinden, wie sie das macht.«
Chris nickte langsam, trank ihren Kaffee aus und ließ das Gesagte auf sich wirken. »Okay, mehr oder weniger kapiere ich es jetzt, aber Sie haben ja schon einen Blick auf das Bild geworfen und Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass es eine Fälschung ist. Was bleibt denn in den nächsten drei Tagen noch zu tun?«
»Ich will sehen, ob ich mein Urteil bestätigen kann«, antwortete Alix prompt. »Wie gesagt bin ich nicht zu hundert Prozent sicher.« Sie lächelte. »Nur zu siebenundneunzig Prozent. Und jetzt muss ich so tief in die Welt von Georgia O’Keeffe eintauchen wie nur irgend möglich. Ich muss die Welt mit ihren Augen sehen und fühlen wie sie. Auf dem Bild wird die Ghost Ranch dargestellt. Die liegt ganz weit draußen, zwei bis drei Stunden nördlich von hier. Sie hat sich in den Ort verliebt und dann diese kleine, einsame Hütte und ein Stück Land gekauft, am Fuß der Felsen, ganz abgelegen. Auch meilenweit von den Gebäuden der Ranch entfernt. Mit über vierzig ist sie hin und hat dort gelebt und gearbeitet, bis sie über neunzig
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