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Gefaehrten der Finsternis

Titel: Gefaehrten der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chiara Strazzulla
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nichts, was mir Angst einjagen könnte. Schon gar nicht du, Sohn der Finsternis, denn du kannst mich höchstens töten, mehr nicht, und ich fürchte den Tod nicht. Nach dem Tod spürt man nichts mehr und warum sollte ich mich vor dem absoluten Nichts fürchten? Nein, ich habe keine Angst vor dem Tod«, wiederholte er. »Es tut mir nur leid. Und zwar um die, die mich lieben und die ich ebenfalls liebe. Es tut mir leid, weil ich weiß, dass ich ihnen im Leben nicht helfen konnte und auch nicht mit meinem Tod. Es tut mir leid, weil ich weiß, dass früher oder später alles enden muss, auch das, was ich geliebt habe. Und außerdem, weil ich weiß, dass manche mich beweinen werden.«
    »Wie ergreifend«, sagte der Dämon höhnisch und tat, als müsste er sich Tränen aus den Augen wischen. »Wirklich herzergreifend. Hast du uns noch andere kostbare Weisheiten mitzuteilen oder
können wir diese kleine rührende Szene jetzt beenden?« Er trat auf Atur zu.
    Der blickte ihn ein letztes Mal mit stolzem Blick an, bevor er Atem holte und den letzten Schrei seines jungen Lebens ausstieß. »Tyke«, schrie er. »Bring sie in Sicherheit! Bring sie weg!«
    Der Dämon erhob wie in einer heiligen Geste sein Schwert. Ein Hauch des Todes strich über die Haare von Attilis Vyrkan und von Atur, der am Boden kniete. Er strich über Tykes Kopf, der dies alles beobachtete, und über den des Regenten, der reglos im Sattel seines Pferdes saß, als hätte ihn der Schmerz zu Stein erstarren lassen. Dann ließ der General der Schwarzen Truppen seine Waffe niederfahren und versenkte die tödliche Klinge in der Brust des jungen Ewigen. Für Tyke war es so, als hätte der Dämon im gleichen Moment auch sein Herz durchbohrt. Er senkte den Kopf, denn er konnte dem Regenten jetzt nicht ins Gesicht sehen. Atur schrie nicht, sondern zog sich mit zitternder Hand das Schwert aus der Brust. Das Blut strömte ihm über die Finger und er sah seinen Gegner mit trüb gewordenen Augen an. Dann sank er langsam wieder zu Boden und blieb dort regungslos liegen, während ihm ein Faden Blut aus dem Mundwinkel rann.
    Bei diesem Anblick löste sich etwas in Tyke. Er sah seinen Freund fallen. Sah, wie seine Gesichtszüge sich verkrampften, seine Finger sich zum letzten Mal ballten, sah den starren Blick seiner aufgerissenen Augen, das Ende dieses Morgens auf dem Schlachtfeld, sah all das Blut und spürte, wie er bei diesem Anblick die Kontrolle über sich verlor. Dieses Gefühl war völlig anders als die Trauer, die noch einen Moment zuvor sein Herz zerrissen hatte. Nun erfüllte ihn ein düsterer, furchtbarer Zorn, der unmöglich zu unterdrücken war, und fegte die Trauer und das Gefühl der Ohnmacht hinweg. Er spürte, wie seine Wangen brannten und sein Kopf auf einmal völlig leer war, und er hatte den brennenden Wunsch, sich mit gezücktem Schwert auf den Dämon zu werfen, um Aturs Tod zu rächen - oder sich vielleicht
auch nur selbst töten zu lassen. Ja, sterben wollte er an diesem tragischen sonnenhellen Morgen, über der Leiche des einzigen Freundes, den er je gehabt hatte. Aber was nutzte es dem, wenn er sich mit gezücktem Schwert auf den Dämon stürzte und nach Rache schrie? Was nutzte es ihm, wenn er jetzt starb? Der Tod war das absolute Nichts, hatte Atur gesagt. Hatte er davor etwa Angst? Blitzschnell sah er noch einmal Aturs Gesicht vor sich, in dem Moment seines Todes, und er erbebte. Ja, ich habe Angst, dachte er. Ich habe Angst vor dem Tod, nicht vor dem, was danach kommt.Vor diesem verhängnisvollen Augenblick des Sterbens.
    Mit zusammengebissenen Zähnen umklammerte er den Griff seines Schwertes. Nun hatte der Wind sich gelegt. Alle, sogar die Goblins, standen wie zu Statuen erstarrt da. Der Dämon sah verächtlich zum Regenten hin. Tyke fand immer noch nicht den Mut, Taliman anzusehen. Er sah wieder Aturs letzte Momente vor sich. Sah die glänzenden Augen seines Freundes, das schmerzverzogene Gesicht und die halb geöffneten Lippen. Dann hallten in seinem Kopf ganz deutlich und klar Aturs letzte Worte wider.
    »Tyke«, hatte er geschrien. »Bring sie in Sicherheit! Bring sie weg!«
    Bring sie weg.
    Bring sie in Sicherheit.
    In die Stadt. In den Schutz der Mauern.
    Dort würden sie in Sicherheit sein. Und er würde einen Weg finden, sie dorthin zu bringen.
    Plötzlich erkannte Tyke von Mirnar, dass er wieder einen wichtigen Grund zu leben hatte.
    »In die Stadt!«, schrie er über diese ganze unnatürliche Lähmung hinweg. »Zurück zur Stadt!«

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