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Gefaehrten der Finsternis

Titel: Gefaehrten der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chiara Strazzulla
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beklemmend, und da er mit niemandem reden konnte, wurde er langsam fast verrückt. Lyannen musste sich schon zurückhalten, dass er keine Selbstgespräch führte. Er hatte vergessen, wie seine Stimme klang, und er war sich nicht sicher, ob er je wieder reden könnte, wenn man ihn dazu aufforderte. Bis jetzt hatte ihn keiner irgendetwas gefragt, ja niemand hatte auch nur ein einziges Wort an ihn gerichtet. Die Frau, die ihm zweimal am Tag das Essen brachte, tat so, als wäre er unsichtbar, und niemand, den er in diesen zwei Tagen auch nur aus der Ferne gesehen hatte, hatte von seiner Anwesenheit Notiz genommen.
    Man hatte sie beinahe unmittelbar nach ihrer Ankunft voneinander getrennt.Ventels Gesichtsausdruck hatte Lyannen entnommen, dass dies seinen Bruder vollkommen überraschend traf. Da all ihre Fluchtmöglichkeiten von Ventels Einfallsreichtum abhingen und sie sich auf jeden Fall über einen Plan absprechen mussten, waren ihre Aussichten nun alles andere als rosig. Bislang
hatten ihnen die Amazonen nichts getan, aber niemand konnte sie davon abhalten, das irgendwann zu tun. Wo wohl die anderen sich aufhielten? Lyannen hatte nicht die geringste Ahnung und es bestand kaum Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Lage. Er hoffte nur noch, dass er eines Morgens aufwachen und bemerken würde, dass alles nur ein Albtraum war. Im Vergleich zu jetzt erschien ihm sein Leben als Außenseiter in Dardamen einfach wunderbar. Aber leider konnte man nicht einfach so aus der Realität aufwachen, wenn es einem gerade so in den Kram passte. Irgendjemand hatte ihm das wohl mal kürzlich gesagt, aber Lyannen erinnerte sich nicht mehr, wer.
    »Wie gerne wäre ich jetzt in Dardamen«, sagte er und seufzte laut auf.
    »Und ich wäre gern in einer Kneipe in der Goldenen Stadt«, entgegnete ihm belustigt eine Frauenstimme. »Aber man kann nicht immer alles im Leben haben, mein Kleiner.«
    Lyannen war so überrascht, dass er einen Moment lang glaubte, er hätte den Verstand verloren. Doch dann schaute er auf und sah, dass jemand heimlich und leise die Tür aufgeschlossen hatte. Auf der Schwelle stand eine etwa dreißigjährige Amazone mit schwarz gelockten Haaren, die ihn amüsiert beobachtete. Drau-ßen war es sehr dunkel und die Amazone hielt eine brennende Laterne in der Hand. Es musste tief in der Nacht sein oder vielleicht war es auch nur wegen des Gewitters so dunkel. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war. »Was gibt’s?«, fragte er.
    »Steh auf und folge mir«, befahl die Frau und schwenkte die Laterne. »Draußen ist Vollmond, oder zumindest wäre es Vollmond, wenn die verfluchten Wolken nicht davorstünden. Nur keine Bange, dir geschieht nichts. Vielleicht erlebst du ja auch eine angenehme Überraschung.«
    »Und die anderen?«, fragte Lyannen schnell.
    »Die schlafen, die glücklichen, und keiner wird sie in ihrem Schlaf stören«, antwortete sie lachend. »Bleib dicht hinter mir,
draußen ist es so finster, dass man nicht die Hand vor Augen sieht, und dieser Ort hier ist das reinste Labyrinth. Du könntest dich verlaufen.«
    »Wohin gehen wir?«, fragte Lyannen, als er nach draußen trat und sich umschaute. Außerhalb des Lichtscheins der Laterne herrschte tiefste Dunkelheit, und das wenige, was er erkennen konnte, sagte ihm gar nichts. Es war unmöglich für ihn, sich an diesem unbekannten Ort zu orientieren.
    »Du wirst schon sehen«, sagte die Amazone geheimnisvoll. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass du dir keine Sorgen machen sollst.«
    Dann lief sie schweigend einen langen Flur entlang und Lyannen musste ihr folgen. Der Holzfußboden knarrte unter ihren Füßen, und draußen schien der Regen noch lauter zu prasseln, wenn das überhaupt möglich war. Es gab keine Fenster, zumindest waren Lyannen keine aufgefallen. Das schwankende Licht der Laterne beleuchtete wunderbare Wandteppiche. Außer ihnen war niemand zu sehen.Vor und hinter ihnen nichts als Dunkelheit.
    Sie liefen noch eine ganze Weile geradeaus. Lyannen verlor völlig die Orientierung. Die Wandteppiche sahen alle gleich aus und der Flur schien kein Ende zu nehmen. Ab und an wandte die Frau sich um, um nachzusehen, dass Lyannen ihr auch folgte. Er war eher neugierig als beunruhigt, trotzdem wäre er lieber an einem weniger unheimlichen Ort gewesen. Die Ewigen mochten die Dunkelheit nicht, und er hatte den Eindruck, dass der Lichtschein der Laterne schwächer wurde. Er hoffte, dass sie bald an ihrem Bestimmungsort ankämen, wo immer das auch sein mochte. Der

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