Gefaehrten der Finsternis
sie eine Zeit lang Seite an Seite schweigend weiter, während man nur das Getrappel der Hufe hörte, das den Takt für den Marsch durch die Ödnis vorgab.
Schließlich war es Irmya, die mit dünner Stimme das Schweigen brach. »Ich frage mich, wo er jetzt ist«, sagte sie leise. »Ob er tot oder am Leben ist. Warum er nicht hier ist...«. Erst jetzt schaute sie ihren Vater länger an und ihr Blick kam einer flehentlichen Bitte gleich. »Glaubst du, dass es darauf eine Antwort gibt? Es muss doch eine geben. Warum ist er nicht hier, wo alle ihn brauchen, ich ihn brauche?«
Der Regent seufzte und schüttelte leicht den Kopf. Sein ernstes Gesicht war schmutzig, der Staub der Ödnis hatte sich auf seine Gesichtszüge gelegt und der warme Wüstenwind hatte seine vollen Lippen ausgetrocknet. »Das frage ich mich auch«, erwiderte er. »Es scheint alles nicht richtig zu sein, hast du nicht auch den Eindruck? Es ist nicht richtig, dass ich hier bin und dein Bruder tot und unbeerdigt auf dem Schlachtfeld liegt. Es müsste anders herum sein: ich dort gefallen und er hier an deiner Seite, um dich zu trösten. Er hätte das besser gekonnt als ich. Diese eine Frage lässt mich die ganze Zeit nicht los: Warum ist Atur nicht hier an meiner Stelle? Denn das sollte er. Aber ich finde keine Antwort darauf.« Er seufzte wieder auf, und Irmya hatte das Gefühl, dass
er damit die Luft aus seinen Lungen pressen wollte, die Luft voller Staub und Blut, und dass er sich vielleicht auch wünschte, dass sich seine Lungen nie wieder mit neuer Luft füllen würden. »Deshalb kann ich dir keine Antwort geben. Nicht, solange ich keine Antwort auf meine eigene Frage gefunden habe, und ich fürchte allmählich, dass es darauf gar keine Antwort gibt. Aber Ventel ist ein starker, mutiger Mann und er liebt dich von ganzem Herzen. Er wird ein letztes Mal zurückkehren, ganz egal, wie dieser Krieg ausgeht, und wenn er unser aller Ende bedeuten sollte. Er wird da sein, zumindest ein letztes Mal. Ich bin mir sicher, dass ich dir das in seinem Namen versprechen kann.«
Er klang ernst und überzeugend, und einen Moment lang gelang es Irmya, daran zu glauben und sich vorzustellen, wie sie selbst in Sicherheit in Syrkun war und Ventel hoch zu Ross zu ihr kam, müde und erschöpft, aber lebendig und glücklich, sie wiederzusehen - um die Schultern den Umhang, den sie selbst ihm umgelegt hatte, und auf den Lippen das Lächeln, das sie so an ihm liebte. Es war nur ein flüchtiger Moment, aber er gab ihr ein wenig Hoffnung zurück. Sie streckte die Hand aus, um über die ihres Vaters zu streichen, und hätten sie nicht beide im Sattel gesessen, hätte sie ihn innig umarmt. Schließlich wusste sie, dass der Regent, der sich so bemüht hatte, ihr ein wenig Hoffnung zu geben, für sich selbst keinen Trost finden konnte. Nichts von dem, was sie im Moment sagen konnte, hätte ihrem Vater helfen können. Daher schwieg sie lieber, ritt einfach nur neben ihm weiter und wartete darauf, dass er etwas sagte oder auch einfach nur schwieg oder sich von ihr entfernte, falls ihm danach war.
Der Regent schaute starr in die Leere vor ihm. »Wir sind alle Verzweifelte, ohne Hoffnung«, sagte er schließlich. »Verzweifelte, die sich nur deshalb noch vorwärtsschleppen, weil ihnen nichts anderes bleibt, es sei denn, sie wollten einfach stehen bleiben und sich zum Sterben niederlegen.«
In diesem Moment unterbrach das unterdrückte Weinen einer
Frau die Stille der Ödnis. Irmya schaute auf ihre Hände hinab, die die Zügel hielten, und sah, dass sich Ruß unter den Nägeln festgesetzt hatte. Sie musste gar nicht zurückblicken, um sich an die finstere, bedrohliche Rauchwolke über der Letzten Stadt zu erinnern.
»Warum halten wir dann nicht einfach an und belassen es dabei?«
»Weil du noch eine Hoffnung hast.« Der Regent richtete sich im Sattel auf, und einen Augenblick lang wirkte er wieder so kriegerisch wie bei seinem letzten Ritt auf dem Schlachtfeld, als Atur noch am Leben war. »Es gibt noch die Hoffnung, dass Ventel Weißhand zu dir zurückkehrt und dass euch eine glückliche Zukunft bevorsteht. Auch für manche der Frauen da hinter uns besteht noch Hoffnung, dass sie eine Zuflucht für sich und ihre Kinder finden, und sei es auch nur für einen Tag. Und für jeden der Verletzten, die stark bleiben, besteht die Hoffnung, dass seine Wunden heilen und er weiterlebt. Solange es diese Hoffnung gibt, solange werden wir nicht anhalten. Deshalb bewahr dir deinen Mut, Irmya,
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