Gefaehrten der Finsternis
Lächeln auf ihren Lippen. Nun war Atur tot - er würde nie mehr lächeln. Und wer weiß, wo Ventel war. Als er von der Letzten Stadt aufgebrochen war, um seine Eltern zu besuchen, hatte er ihr versprochen, dass er bald zurück sein würde, und sie hatte ihm geglaubt. Bis zu diesem Moment hatte er jedes Versprechen gehalten, und Irmya wusste, dass er alles Erdenkliche versuchen würde, um auch dieses einzuhalten. Und genau das machte ihr Angst. Sie hatte schon so lange nichts mehr von ihm gehört, Dardamen war weit, und sie hatte gerade am eigenen Leib erfahren müssen, wie grausam der Krieg war. Jedes Mal, wenn sich das Bild ihres sterbenden Bruders vor ihre Augen schob, musste sie wieder an Ventel denken und fragte sich, auf welchem fernen Schlachtfeld er wohl kämpfte - oder starb.
Als sie so überstürzt die Stadt verlassen hatten, ehe der Feind die Tore eingerannt hatte, war Irmya der Schleier vor ihrem Gesicht weggerissen worden. Jener Schleier, den nur Ventel ihr hätte abnehmen dürfen, und zwar in dem Moment, in dem sie seine Frau geworden wäre. Nichts hatte sie je in ihrem ganzen Leben mehr ersehnt, nicht einmal den Frieden wünschte sie sich mit solcher Inbrunst herbei. Und jetzt war der Schleier von ihrem Gesicht genommen; der Krieg hatte auch das letzte Pfand mit sich fortgetragen, das sie mit ihrem Verlobten verband. War das ein böses Omen - ein Zeichen, dass ihr der Krieg, der sie bereits getrennt hatte, nun den Liebsten endgültig entrissen hatte? Ach, mehr als alles andere wünschte sie sich ein Zeichen, dass er lebte, sei es auch noch so klein und missverständlich. Mehr brauchte sie nicht, um weiterhoffen zu können. Doch Irmya spürte, wie ihre Hoffnung allmählich immer weiter schwand. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, wenn Ventel nicht mehr war. Sie brauchte ihn, um weiterzuleben, um all dies ertragen zu können. Natürlich war
dieser Gedanke egoistisch, das war ihr bewusst, vor allem, wo sie eigentlich gerade jetzt ihrem Vater zur Seite stehen sollte. Auch ihre Mutter schien den Strapazen der Reise nicht gewachsen zu sein: Sie wirkte fast immer abwesend, saß vornüber gebeugt in ihrem Sattel, ohne ihre Tochter oder ihren Mann überhaupt wahrzunehmen.
Seit sie aus der Stadt geflüchtet waren, hatte Irmya noch kein Wort mit ihren Eltern gewechselt, sie brachte es einfach nicht über sich. Ihrem Vater hatte sie sich schon oft genähert, doch dann hatte sie sich jedes Mal wieder abgewandt, fast erschrocken angesichts der Vorstellung, ihm in die Augen blicken zu müssen. Auch er hatte wenig gesagt, fast nichts in all der Zeit, hatte nur ein paar hastige Worte an den jungen Mirnar gerichtet, um ihm die Lage zu schildern, nachdem der wieder das Bewusstsein erlangt hatte. Irmya mochte diesen jungen Mann - diesen tapferen Sterblichen, der in den Reihen der Ewigen kämpfte und dabei kein Fremdling war, sondern sie sogar zurück zu den schützenden Toren der Stadt geführt hatte. Tyke von Mirnar hatte sehr dazu beigetragen, dass sich zumindest die verbliebenen Truppen und die Zivilbevölkerung hatten retten können. Als Irmya hoch oben auf der Stadtmauer gehört hatte, wie ihr Bruder laut Tyke die Freie Garde anvertraute, war sie zunächst erstaunt gewesen. Doch dann hatte sie gesehen, wie Tyke an der Spitze ihrer Leute zur Letzten Stadt geprescht war, und hatte sich nicht mehr gewundert. Atur hatte den Richtigen ausgewählt;Ventel hätte wohl dieselbe Wahl getroffen, wenn er dabei gewesen wäre.Ventel, der jetzt so fern war, vielleicht sogar tot, in unbekannter Erde begraben.
»Irmya.«
Brüsk wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Ihr Vater hatte sie angesprochen. Sie zögerte einen Moment, bevor sie sich in die Richtung umdrehte, aus der seine Stimme gekommen war. Dann sah sie ihm endlich ins Gesicht - und erkannte zu ihrer
großen Erleichterung nichts Schreckliches im Blick ihres Vaters, nichts von dem, was sie befürchtet hatte, auch keinen stillen Vorwurf, dass sie ihren Bruder überlebt hatte und der Sohn, auf dem alle Hoffnungen ihrer Eltern geruht hatten, nun tot war. Nur Schmerz stand in Talimans Augen, abgrundtiefe Trauer. Doch bei allem Leid hatte der Regent dennoch ein freundliches Lächeln auf den Lippen, mit dem er das einzige Kind trösten wollte, das ihm geblieben war.
»Du denkst gerade an ihn, nicht wahr? An Ventel.«
Schweigend nickte Irmya.Worte hätte auch nicht geholfen, sie hätten nicht erklären können, was sie fühlte.Taliman lenkte sein Pferd neben sie. So ritten
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