Gefaehrten der Finsternis
rührte er sich nicht von der Stelle. Starr wie eine Statue blieb Lyannen sitzen und grübelte über die eigene Machtlosigkeit nach. Irgendwann war seine Mutter gekommen - es konnten Stunden oder auch erst einige Minuten seitdem vergangen sein. Die Flamme der Lampe hatte auf jeden Fall noch viel heller gebrannt, als sie sich ihm genähert hatte. Sie kam zu ihm, wie so oft, wie damals, als er noch ein kleiner Junge gewesen war und die Welt da draußen so grausam, dass einer wie Lyannen nicht hinausgehen konnte, ohne Schaden zu nehmen. Sasha wusste genau, wo sie ihn finden würde: in seiner Ecke im Laubengang, an dem Ort, an den er sich immer flüchtete, wenn er das Bedürfnis verspürte, allein zu sein. Jedes Mal hatte sie sich dann neben ihn gesetzt und mit ihm gesprochen, und schließlich hatte sie ihn immer wieder ins Haus zurückgeführt. Jedes Mal hatte sie ihn dazu gebracht,
seinen persönlichen Kampf wieder aufzunehmen. Doch dieses Mal nicht. Dieses Mal war es nicht einmal Sasha gelungen, ihn zu überreden, sich nicht länger der nächtlichen Kälte auszusetzen. Schließlich hatte sie aufgegeben, vielleicht hatte sie auch begriffen, dass es sich dieses Mal anders verhielt als sonst, dass er dieses Mal einfach nicht anders konnte. Sie hatte ihm eine Decke gegen frische Nachtluft gebracht, ihn ermahnt, die Flamme nicht ausgehen zu lassen, und war dann zurück ins Haus gegangen. Lyannen hatte gesagt, dass alles in Ordnung sei, dass sie sich keine Sorgen machen solle. Halb im Dunkeln verborgen, hatte sie ihm zugelächelt und ihm einen Kuss auf die Stirn gedrückt, ehe sie hineinging, und sie hatte ihm zu Recht nicht geglaubt. Die Decke lag immer noch zusammenfaltet neben ihm und die Lampe war fast erloschen. Sasha hatte alles getan, was sie konnte, es gab nichts, was er ihr hätte vorwerfen können. Aber die Dinge lagen inzwischen außerhalb ihrer Macht. Das waren keine Angelegenheiten mehr, bei denen der tröstende Zuspruch einer Mutter alles ins Reine bringen konnte.
Als sie den Saal des Hohen Rates verlassen hatten, hatte er mit den anderen nicht mehr über das Vorgefallene gesprochen. Anscheinend konnte keiner der Freunde darüber reden. Nicht einmal Validen, der es eigentlich nie schwierig fand, die heikelsten Themen anzusprechen. Sie hatten den Nachmittag hinter sich gebracht und so getan, als ob nichts passiert wäre, als ob Eileen nicht in irgendeinen unbekannten Kerker entführt worden wäre, als ob die Goblins nicht die Grenzen des Reiches bedrängten, als ob sie nicht gerade ihr Leben für eine Sache einsetzen wollten, von der sie wussten, dass sie zu groß für sie war. Sogar Vandriyan hatte eingeräumt, dass er für sich selbst nur wenig Aussicht auf Erfolg sah - Vandriyan, der Größte von ihnen allen, der so viel mehr erlebt und erfahren hatte, als sich vier Jungen auch nur vorstellen konnten! Als sie sich in dieses Abenteuer gestürzt hatten,
hatten sie beschlossen, ihr Leben gegen jemanden aufs Spiel zu setzen, der es auf eine wesentlich größere Beute abgesehen hatte als auf ihre vier jämmerlichen Herzen. Sie hatten es rein instinktiv beschlossen, ohne zu wissen, was sie da taten, nur weil sie spürten, dass es getan werden musste. Sie hatten es alle vier gemeinsam beschlossen, und keiner von ihnen hätte eine Erklärung dafür abgeben können.
Sie hatten nichts gesagt, weil es keiner Worte bedurft hatte. Doch sie wussten genau: Keiner von ihnen würde einen Rückzieher machen, wenn der Hohe Rat ihren verrückten Entschluss unterstützen sollte. Es war, als hätten sie eine Linie überschritten, von der aus es kein Zurück mehr gab. Schließlich ging es um Eileen, und allein der Gedanke an sie hätte Lyannen dazu gebracht, durchs Feuer zu gehen oder sich in den Schlund eines Drachen zu stürzen. Mit oder ohne Zustimmung des Hohen Rates.
Der Wind frischte auf, strich über den Boden des Laubenganges, kroch unter Lyannens Kleidung und ließ ihn erschauern. Die Flamme der Lampe flackerte und erlosch. Die Dunkelheit eroberte sich den Raum zurück, als wäre das ihr angestammtes Recht. Am Himmel schienen die Sterne plötzlich viel heller zu strahlen und Lyannens Augen weiteten sich. Millionen von nahen und weit entfernten Sternen funkelten über ihm, brannten ihre kleinen kalten Feuer ab.Vielleicht wiesen sie ihm ja den Weg zu Eileen, einen langen Weg hin zu fernen und unwirtlichen Gegenden, zu lang für Lyannen, der Dardamen noch nie verlassen hatte. Er senkte seine Augen, fast erschrocken vor
Weitere Kostenlose Bücher