Gefaelschtes Gedaechtnis
den kleinen Raum gegenüber.
»He, Bets — ich bin weg. « Bette war auch das erste Jahr da und erstickte wie Adrienne in Arbeit.
Ächzend und mit verzerrtem Gesicht stand Bette auf. »Mein Gott«, sagte sie, »ich bin völlig verspannt. Ich muss daran denken, mich einmal pro Stunde zu bewegen.« Sie stockte, und vage Hoffnung spiegelte sich auf ihrem Gesicht. »Was meinst du, Scout? Gehen wir Sushi essen? Ich komme hier drin noch um.«
Adrienne schüttelte den Kopf. »Bin mit meiner Schwester verabredet. Unsere monatliche Familiensitzung.«
Bette runzelte die Stirn. »Wie geht's ihr denn überhaupt?«
Adrienne zuckte die Achseln. »Noch immer durchgedreht. Sie geht zwei-, dreimal die Woche zum Therapeuten, aber ehrlich gesagt, ich glaube, er ist eher Teil des Problems als die Lösung. Jedenfalls ... sie will mit mir reden. Hat gesagt, es ist importante .«
»Oje.«
Adrienne lächelte wehmütig. »Wem sagst du das.«
Normalerweise ging Adrienne zu Fuß oder nahm öffentliche Verkehrsmittel, und das war gut so, schließlich schuldete sie diversen akademischen Institutionen insgesamt siebzigtausend Dollar. Aber heute Abend war sie so müde und so spät dran, dass sie nach einem Taxi Ausschau hielt. Und dabei zeigte sich ihre Unerfahrenheit: Sie brauchte fast fünf Minuten, bis sich ein Fahrer durch ihr schüchternes Winken angesprochen fühlte.
Der Mann hinterm Steuer hatte einen halsbrecherischen Fahrstil, sodass Adrienne manchmal vor Panik die Augen zukniff. Dann waren sie da, und sie musste sieben Dollar bezahlen, doppelt so viel, wie sie erwartet hatte. Sie wollte schon protestieren, aber das hätte ohnehin nichts gebracht. Die Taxipreise in Washington waren unergründlich, und so sollte es wohl auch sein.
Als sie das Gebäude betrat, erkannte der Portier sie - gewissermaßen. »Hallo — Sie sind Nicos Schwester, hab ich Recht?«
»Adrienne.« Sie lächelte. »Würden Sie ihr Bescheid sagen, dass ich auf dem Weg nach oben bin?«
»Aber klar.« Er winkte sie durch, und sie ging zum Fahrstuhl. Zu ihrer Verblüffung ging er sofort auf, als sie den Knopf berührte. Aber als sie an der Wohnungstür klingelte, machte Nikki nicht auf. Adrienne stand vor der Tür, drückte erneut auf die Klingel und hielt den Daumen drauf. Sie dachte, vielleicht ist sie unter der Dusche ... Sie lauschte und meinte, Jack bellen zu hören, schwach, als wäre er in der Küche eingesperrt. Aber von Nikki war nichts zu hören. Adrienne schaute auf die Uhr: Es war fast halb neun.
In gewisser Weise war sie eher erleichtert als verärgert. Sie war zwar das Geld für das Taxi los, aber sie war froh - regenbogenfroh -, jetzt doch noch baden und früh schlafen gehen zu können. Nikki hatte ihre Verabredung entweder vergessen, oder, was wahrscheinlicher war, sie war Zigaretten oder sonst etwas holen gegangen und aufgehalten worden.
Wie auch immer - Adrienne drückte ein letztes Mal lange auf die Klingel -, sie hatte Adrienne eine Fluchtmöglichkeit eröffnet. Während sie zurück zum Fahrstuhl ging, konnte sie sich das Telefongespräch ausmalen, das sie am nächsten Morgen führen würden.
Aber ich war wirklich da — frag deinen Portier!
Ich war höchstens zehn Minuten weg.
Ich hab geklingelt und geklingelt!
Ich hatte keine Butter mehr!
Woher sollte ich das wissen? Du hast mir keine Nachricht dagelassen.
Ihre Schwester. Sosehr Adrienne auch an ihr hing, die Wahrheit war, dass sie sich in ihrer Gesellschaft nie richtig wohl fühlte. Immer wartete sie nur darauf, dass das Gespräch in die falsche Richtung lief, und das passierte unweigerlich im Verlauf des Abends. Mit Nikki zusammen sein, das war wie Auto fahren mit einem Loch im Reifen. Eine Zeit lang ging alles gut, ganz gleich wie nervös der Fahrer auch sein mochte, doch dann wurde alles weich und wackelig und ... man musste anhalten und aussteigen. Natürlich hatte sie Mitgefühl mit ihr. Sie war so verständnisvoll und fürsorglich wie möglich, und sie würde Nikki wirklich gerne mehr Geduld entgegenbringen, aber die Wahnvorstellungen ihrer Schwester, der sexuelle Missbrauch, den sie sich zusammenfantasierte, waren so grotesk und theatralisch, so absolut irre, dass sie da einfach nicht mehr mitspielen konnte. Zumal sie selbst angeblich Opfer desselben unaussprechlichen Verbrechens gewesen war.
Wenn ein Typ mit einer Kapuze mich gevögelt hätte, als ich vier war, dachte Adrienne, würde ich mich doch wohl daran erinnern. Die Fahrstuhltüren glitten auf, sie trat ein und
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