Gefaelschtes Gedaechtnis
junge Riedle hielt sie für tot, und da er kein Tristan war, ließ er sie einfach im Haus seiner Eltern, einer Villa in einer der teuersten Gegenden der Stadt, sabbernd auf dem Boden liegen.
Als die Haushälterin der Riedles sie am folgenden Morgen fand und einen Rettungswagen rief, war sie im Koma. Fast eine ganze Woche lag sie bewusstlos im Krankenhaus, und als sie erwachte, konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Ein Monat verging. Schließlich wurde sie in eine Schweizer Klinik verlegt, wo auch Drogensüchtige behandelt wurden. Da Nikkis Probleme mit einer Überdosis begonnen hatten und man in der Klinik mit vergleichbaren Fällen bereits erfolgreich gewesen war, glaubte man, sie sei dort am besten untergebracht.
Während die Ärzte damit rechneten, dass die Amnesie sich von allein zurückbildete, war Nikki für sich und alle anderen die Patientin X. In der Zwischenzeit fragte man bei der US-Botschaft in Bonn nach — Nikkis Englisch klang eindeutig amerikanisch —, leider ohne Ergebnis. Es lagen keine Vermisstenanzeigen vor, auf die ihre Beschreibung passte. Es hatte auch niemand einen Pass mit ihrem Foto darin gefunden. Was bedeutete, dass ihre Staatsangehörigkeit nicht bestimmt werden konnte.
Und dann geschah es. An einem warmen Frühlingstag, als sie von der Klinik zum Pier mit den vielen Restaurants ging, sah Nikki ein Werbeplakat für den Film >In einem fernen Land<. Cruise und Kidman eng umschlungen, und ... Nicole. Plötzlich strömte alles wieder auf sie ein. Sie erinnerte sich an ihren Namen. Sie erinnerte sich an Carsten Riedle. Sie erinnerte sich sogar an die CD, die lief, als der Drecksack ihr den Schuss setzte. Alanis Morissette. »Jagged Little Pill.«
Zwei Tage später hatte sie schon einen Anwalt und zwei Wochen später eine außergerichtliche Vereinbarung: Wenn die junge Dame bereitwillig aus dem Leben ihres Sohnes verschwand und auf jegliche rechtliche Schritte gegen die Familie verzichtete, würden die Riedles einen Treuhandfonds für sie einrichten. Und so geschah es: eine halbe Million Dollar.
Der Fahrstuhl öffnete sich, und Adrienne trat in die Lobby, noch immer ganz in Gedanken an ihre Schwester versunken. Sie hatte sie immer fragen wollen: »Wann hast du dich an mich erinnert? Schon in der Schweiz oder später?« Und: »Warum hast du nicht angerufen? Warum bist du nicht nach Hause gekommen?« Und von der Klinik hätte sie gern gewusst, wer der Idiot in der Botschaft war, mit dem sie gesprochen hatten. Denn Deck und Marlena hatten etliche Male mit dem State Department telefoniert. Sie wussten, dass Nikki zuletzt in Deutschland gewesen war, und sie hatten immer wieder nachgefragt, ob eine Amerikanerin, auf die ihre Beschreibung zutraf, Ärger mit der Polizei bekommen hatte oder in einen Unfall verwickelt worden war. Irgendwie war Nikkis Zwangslage durch die Maschen der Bürokratie gerutscht. Es war empörend, aber nicht mehr zu ändern.
Und außerdem war es nicht dieselbe Nikki, die zurückgekommen war — nicht wirklich. Es war eine Art - Nikki light.
Adrienne blickte sich verstohlen in der Lobby um, rechnete fast damit, ihre Schwester zu sehen, und hatte ein schlechtes Gewissen, als sie erleichtert feststellte, dass Nikki nicht da war. Während sie durch die Lobby ging, dachte sie, dass ihre Zuneigung zu ihrer Schwester eher nostalgisch als echt war, dass sie sich mit ihr genauso aus Pflichtgefühl wie aus Zuneigung traf. Das war falsch, aber sie würde sich deswegen keine Vorwürfe machen. Nikki war nicht bloß verstört; sie war auch verstörend.
Das, was stets zwischen. Begrüßungskuss und Vorspeise zum Vorschein kam, war etwas, worüber Adrienne lieber nicht nachdenken wollte. Nikki zeigte keinerlei Anzeichen von Besserung, es ging ihr immer schlechter. Und dieser Psychiater, zu dem sie ging, war keine Hilfe. Eigentlich genau das Gegenteil. Seit Nikki bei ihm in Behandlung war, wurde sie immer verrückter, erzählte Dinge, die nicht nur nie passiert waren, sondern die nie passiert sein konnten.
Und wenn sie ihre Schwester so sah, wollte Adrienne irgendetwas unternehmen, nur —
»Sie gehen schon wieder?« Der Portier hielt ihr die Tür auf.
Adrienne zuckte die Achseln. »Sie wird wohl ausgegangen sein.«
Der Portier blickte verwundert, schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich hätte sie sehen müssen. Haben Sie schon im Wäschekeller nachgesehen?«
Adrienne blieb vor der Tür stehen, drehte sich dann um. »Nein ... gute
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