Gefaelschtes Gedaechtnis
den Fernseher, bis es Zeit zum Abendessen war. Dann ging er in die Küche und blickte sich mit einem Gefühl von Mutlosigkeit um. Die Küche war schön, mit Kiefernschränken und marmornen Arbeitsflächen, einem Magnetblock, in dem ein Dutzend scharfe Messer steckten, und einer ganzen Reihe von Küchengeräten. Aber er kochte nicht — oder zumindest nicht oft. Die meiste Zeit ließ er sich etwas zu essen kommen.
Auf der Küchentheke stand ein kleiner CD-Player, und er spähte durch die Glasabdeckung, um zu sehen, welche CD eingelegt war. Cowboy Junkies. Er drückte auf » Play « und ging die Speisekarten von verschiedenen Lieferservices durch.
Er konnte sich Thai-Essen bestellen — das wäre gut. Aber nur wenn er Bier da hatte. Er zog die Kühlschranktür auf und suchte die Fächer ab. Perrier, Milch und Coca-Cola und eine Flasche Pinot Grigio, aber kein Bier.
Er sah auf die Uhr und überlegte. Er war gerade einkaufen gewesen. Wieso hatte er nicht an Bier gedacht? Es war kurz nach sieben, der Supermarkt im Untergeschoss hatte also schon zu. Wenn er Bier haben wollte, musste er zum nächsten Kiosk gehen. Der Gedanke machte ihn beklommen, als hätte er aus den Augenwinkeln etwas unter die Couch huschen sehen. Etwas Dunkles und Schnelles. Ein ungutes Gefühl durchlief ihn wie ein Frösteln.
Mit einem Seufzer nahm er den Pinot Grigio aus dem Kühlschrank, entkorkte ihn und goss sich ein Glas ein. Dann drückte er den Knopf am Telefon, der automatisch Chiang Mai Garden anwählte. Er gab seine Bestellung durch, und der Mann am anderen Ende wiederholte sie.
»Ein Numme' vie', ein Numme' sweiunnswansig. Seh' gut. Fünf-sehn Minute.«
Er versuchte sich einzureden, dass Wein zu Thai-Essen genauso gut passte wie Bier. Aber in Wahrheit stimmte das nicht. So gut der Pinot Grigio auch war, er hatte fast den Geschmack des kalten, schaumigen Biers auf der Zunge.
Der nächste Kiosk war nur drei Querstraßen entfernt. Er sollte hingehen, aber ... Das ist doch lächerlich, dachte er. Er setzte sich an den Küchentisch, trank einen Schluck Wein und schüttelte den Kopf.
War er schon immer so gewesen?
Nein. Zumindest glaubte er das nicht.
Seit wann also? Wann hatte es angefangen?
Er behandelte Leute mit kognitiven Problemen, daher kannte er seine eigenen Symptome nur zu gut. Er litt an »Agoraphobie, also Platzangst. Laut Lehrbuch an Agoraphobie mit panischer Störung. Situationen werden vermieden oder mit deutlichen Stressanzeichen erduldet.«
Schlimmstenfalls waren Agoraphobiker Gefangene ihrer Ängste, unfähig, die eigenen vier Wände zu verlassen. Durans Erkrankung war nicht ganz so schlimm. Wenn die Notwendigkeit groß genug war, konnte er sich widersetzen. Er konnte hinausgehen, und er tat es. Aber immer seltener, so kam es ihm vor, und nie mit Freude. Offen gesagt, wenn er nicht in den Capitol Towers, die wie ein urbanes Dorf waren, wohnen und arbeiten würde, hätte die Phobie ihn vielleicht schon völlig gelähmt.
Das bereitete ihm Sorge. Und nicht bloß die Phobie, sondern auch die Art, wie er damit umging. Im Grunde ignorierte er das Problem, weil es ihm unangenehm war, darüber nachzudenken — was eingedenk seines Berufes schon fast absurd war. In Wahrheit fragte er sich, ob er den beruflichen Ansprüchen überhaupt noch genügte. Konnte ein Therapeut, der sein eigenes Leben nicht hinterfragte, anderen Menschen nach wie vor helfen? Hatte er das Recht, sich um Patienten zu kümmern, die so gestört waren wie Nico und de Groot? Er leerte sein Weinglas und füllte es erneut.
Eine Stimme in seinem Hinterkopf raunte: Therapeut, heil dich selbst. Und eine zweite Stimme entgegnete: Später ...
6
N icos Schwester Adrienne hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. So einfach war das.
Sie hatte im Vorjahr ihr Jurastudium an der Georgetown University beendet und danach mit Slough & Hawley einen faustischen Handel geschlossen, um einen Schuldenberg abzutragen, den das kostspielige Studium angehäuft hatte. Für ein üppiges Gehalt und einen erstklassigen Start in eine Blitzkarriere wurde von Adrienne erwartet, zwei Jahre lang achtzig Stunden die Woche zu schuften, auf Probe. War sie nach Ablauf dieser Zeit noch »fähig«, also weder ausgebrannt noch gefeuert, sollte sie fest eingestellt werden. Wonach alles erheblich einfacher werden würde, zumindest interessanter.
Vorläufig jedoch war es die Hölle. So war die Vereinbarung.
Im Augenblick arbeitete sie an einem Memo für Curtis Slough
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