Gefahrliches Vermachtnis
bereits eine Menge Jemands gibt, die einen sehr genauen Blick auf dich werfen.“
„Du hörst mir nicht zu! Ich spreche nicht von Jungs! Ich spreche von jemandem, der mich ernst nimmt. Bist du schon so altersschwach, dass du dich nicht mehr daran erinnern kannst, wie es sich anfühlt, in meinem Alter zu sein?“
Er wurde ernst. „Tut mir leid.“
„Was siehst du, wenn du mich ansiehst? Einen Teenager, der nur an seine Frisur denkt und wie er eine gute Note in Trigonometrie kriegt? Ich habe Gefühle, und ich mache mir Gedanken über das, was hier passiert. Ich kann nachempfinden, was diese Kinder durchmachen müssen. Und ich will nicht, dass mir irgendjemand sagt, was ich für sie tun oder nicht tun kann.“
„Wer versucht das?“
„Weißt du, dass mein Vater auf einer Bürgerschaftskundgebung sprechen wird?“
Ben verzog das Gesicht.
„Es hat sich niemand die Mühe gemacht, es mir mitzuteilen“, schnaubte sie aufgebracht.
„Und was hältst du davon?“
„Ich bin wütend.“ Ihre Wut verrauchte, sobald sie es ausgesprochen hatte. „Wie kann er so etwas bloß tun? Fast alle Politiker sagen, dass sie für die Rassentrennung sind, aber niemand würde bei dieser Kundgebung sprechen.“
„Ich vermute, du fühlst dich zwischen deinem Vater und deinem Onkel hin- und hergerissen.“
„Natürlich. Ich liebe sie alle beide.“
„Und jetzt musst du dich entscheiden.“
„Nein. Nein! Ich werde mich niemals zwischen beiden entscheiden. Es geht hier nicht darum, wen ich lieber habe. Es geht darum, wie ich mich fühle.“ Sie schlug sich mit der Faust gegen die Brust. „Es geht darum, wer ich bin, und nicht, wer sie sind.“
„Das ist sehr erwachsen.“
Sie wusste, dass sie einen unausgesprochenen Test bestanden hatte. Aber hier ging es nicht um Bens Bewunderung. Es ging wirklich um sie und darum, woran sie glaubte.
„Ich werde mit meinem Vater sprechen“, erklärte sie. „Ich werde mit ihm sprechen und ihn bitten, nicht bei dieser Kundgebung zu sprechen.“
„Dein Vater ist in Baton Rouge“, sagte eine Stimme hinter ihr.
Dawn stand ihrem Onkel gegenüber. Er wirkte müde. „Ich weiß. Aber er wird morgen nach Hause kommen.“ Sie umarmte Hugh kurz. „Du hast kein Recht dazu, meiner Mutter zu versprechen, dass ich nicht zu der Schulaktion mitkommen werde, Onkel Hugh. Es ist meine Entscheidung. Ich mag es nicht, wenn du oder meine Mutter Entscheidungen für mich trefft.“
„Sie liebt dich und macht sich Sorgen um dich.“
„Ich vermute, das tun die Mütter der Kinder, die zum ersten Mal in eine weiße Schule gehen werden, auch.“
„Manchmal vergesse ich, dass du schon fast erwachsen bist.“ Sie schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln. „Na ja, manchmal mache ich es dir leicht.“
„Wir müssen los.“ Er strich ihr über die Schulter. „Wenn du morgen mit deinem Vater sprichst, könnte es sein, dass das Gespräch anders ausgeht, als du es dir gedacht hast.“
„Daddy ist ein besserer Mensch, als du glaubst.“
Hugh antwortete nicht.
„Viel Glück!“, sagte Ben. „Vergiss nicht, dass es um dich geht. Wie du vorhin gesagt hast.“
Am nächsten Morgen war sie kurz davor, die Nerven zu verlieren. Sie hatte Konfrontationen mit ihren Eltern bisher vermieden, aus Angst, sie wütend auf sich zu machen. Die Beziehung zu ihrer Mutter hing am seidenen Faden. Das Verhältnis zu ihrem Vater war stärker, hing aber dennoch im Wesentlichen davon ab, welche Rolle sie dabei spielte. Sie hatte bislang immer versucht, die gewünschte Vorzeigetochter zu sein. Wennsie ihn nun zur Rede stellte, würde sie aus dieser Rolle fallen.
Sie war eine Stunde früher fertig als üblich und verließ das Haus, nachdem sie Sarah Jane gesagt hatte, dass sie von ihrer Großmutter aus zur Schule gehen würde. Aurore war im Garten. Sie bearbeitete eine feuerrote Teerose mit einer scharfen Gartenschere.
„Was tust du da?“, fragte Dawn.
„Lieber Himmel, hast du mich erschreckt, Liebes!“ Aurore breitete die Arme aus und umarmte sie. Dawn schmiegte sich an sie.
Während ihre Großmutter sie umarmte, bemerkte Dawn, wie zerbrechlich sie geworden war. Aurore war zweiundsiebzig. Sie hatte immer die Energie einer viel jüngeren Frau besessen und ging auch jetzt noch jeden Tag ins Büro, obwohl sich inzwischen ihre Mitarbeiter und der Aufsichtsrat um den Löwenanteil der Geschäfte kümmerten.
Doch Aurore interessierte sich inzwischen für etwas Neues. Vor ein paar Jahren hatte sie ihre Direktoren davon
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