Gefahrliches Vermachtnis
überzeugt, ihr einen kleinen Verlag zu finanzieren. Dort veröffentlichte sie ein vierteljährliches Magazin über die Flussschifffahrt. Der Verlag befand sich in der zweiten Etage von Gulf Coast Shipping; Aurore bezeichnete ihn als das Hobby einer alten Dame. In Wirklichkeit, gestand sie Dawn, ginge sie nur der Aussicht auf den Fluss wegen ins Büro.
Nun fiel Dawn ihre Blässe auf und das helle Grau des einstmals dunklen Haars. „ Grandmère, geht es dir gut?“
„Ja, mir geht es gut. Weshalb fragst du?“
„Ich weiß nicht.“ Das stimmte. Dawn blickte auf die Frau, die ihr achtzehn Jahre lang Halt gegeben hatte. Sie war sich nicht sicher, was sich verändert hatte, aber sie spürte etwas – vielleicht so etwas wie Resignation. „Du hast mir noch nicht gesagt, was du da machst.“
„Oh. Es ist Zeit, die dürren Ästchen wegzuschneiden. Wenn ich das nicht mache, sind die Pflanzen im Frühjahr kaputt. In New Orleans ist es eigentlich zu feucht und zu heiß für Rosen,also muss man sich noch mehr um sie kümmern als normalerweise.“
„Aber deine Rosen sind wundervoll.“
„Ich habe mich immer schon sehr viel mehr um sie gekümmert als üblich.“
Dawn begriff, dass Aurore in Wirklichkeit über etwas anderes als Rosen sprach, aber sie wusste nicht genau, worüber. „Ich bin froh, dass du dich gekümmert hast. Die Rosen gehören zu meinen liebsten Blumen im Garten.“
„Hugh mochte sie auch am liebsten.“
„Er ist wütend auf Daddy, Grandmère. Onkel Hugh glaubt, dass Daddy die Integration schwarzer Kinder in weißen Schulen noch schwieriger macht. Er hat zugestimmt, nächste Woche bei einer Kundgebung eine Rede dagegen zu halten.“
„Dein Vater und dein Onkel haben sich schon vor Langem entzweit.“ Aurore starrte an Dawn vorbei. „Keiner der beiden hat mir den Grund dafür genannt.“
„Bist du auch auf Onkel Hugh wütend?“ Der Augenblick schien gekommen, die Fragen zu stellen, die ihr immer schon auf der Seele lagen. Doch dann wünschte Dawn, sie hätte darauf verzichtet. Ihre Großmutter wirkte verletzt.
„Nein! Er ist alles, was ich nicht bin. Wie könnte ich auf meinen eigenen Sohn wütend sein?“
„Dann bist du wütend auf Daddy?“
„Niemand glaubt ohne Grund an etwas. Dein Vater wurde von seinem Vater beeinflusst. Er glaubt immer noch, was er ihm beigebracht hat. Wie könnte ich wegen der Dinge, die ich mich geweigert habe, ihm zu erklären, wütend auf ihn sein?“
„Ich möchte heute Abend mit ihm reden, Grandmère. Ich möchte ihn bitten, nicht auf dieser Kundgebung zu sprechen. Aber ich habe Angst davor.“
Aurore nickte wortlos.
„Was, wenn …?“
„Was, wenn du ihn verärgerst? Was, wenn er danach nichts mehr von dir hält?“
„Du weißt immer, was ich fühle.“
„Na ja, das ist diesmal sehr leicht. So würde sich jeder fühlen.
Aber ich glaube, dein Verhältnis zu deinem Vater ist so wie mein Verhältnis zu meinen Rosen.“
Dawn lächelte. „Daddy wird nicht glücklich darüber sein, wenn ich versuche, seine toten Ästchen abzuschneiden.“
„Dein Verhältnis zu deinem Vater ist nicht einfach, und es bedeutet eine Menge Arbeit, um es zum Blühen zu bringen. Ehrlich mit deinen Gefühlen umzugehen gehört dazu, aber du kannst keine sofortigen Resultate erwarten.“
„Hast du je eine Rose weggeworfen? Hast du jemals zu viel abgeschnitten?“
„Das kommt vor.“
„Genau das ängstigt mich.“
„Das sollte es auch. Aber denk einfach daran, dass es keine Chance auf Erfolg gibt, wenn du es gar nicht erst versuchst. Wenn du gar nicht erst tust, was nötig ist, weil du Angst davor hast.“
„Ich wünschte, ich besäße deinen Mut, Grandmère .“
Die Antwort ihrer Großmutter überraschte sie. „Ich bin der schlimmste Feigling, dem du je begegnet bist“, sagte Aurore. „Ich bete zu Gott, dass du mutiger sein wirst, als ich es gewesen bin.“
Den Rest des Tages verbrachte Dawn damit, sich zu überlegen, was sie ihrem Vater sagen wollte. Um zehn ging ihre Mutter ins Bett. Das Haus war still. Dawn fuhr am Esstisch fort, so zu tun, als ob sie an einem Thesenpapier arbeitete. Doch eigentlich saß sie nur dort, um die Haustür im Blick zu haben. Um elf, als Dawn die Bücher zuschlug, kam Ferris nach Hause.
Sie hatte die Art ihres Vaters immer bewundert, sich so zu bewegen, als ob ihm die ganze Welt gehörte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hätte sie sich gewünscht, dass er nicht so energiegeladen und arrogant gewesen wäre. Plötzlich schien es
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