Gefahrliches Vermachtnis
Gerritsen-Familie für immer auseinanderbringen würde. Doch Ben wusste auch, dass nicht er derjenige sein durfte, der die Wahrheit aussprach. Er hing in diesem Spinnennetz wie die Kleiderpuppen in der garconnière.
Phillip saß alleine am Tisch und aß die restlichen Flusskrebse, als Ben das Cottage durch die Küche betrat. Falls die anderen da waren, waren sie wenigstens nicht in der Nähe. Phillip hob den Kopf, um ihn zu betrachten. „Bist du in den Sturm geraten?“
„So ähnlich.“ Ben verkniff sich einen weiteren Kommentar. „Dawn war hier und ist jetzt weg.“
„Weg?“
„Oben in ihrem Zimmer.“
Ben kannte niemand anderen, den er um Unterstützung bitten konnte. „Phillip, du weißt doch noch mehr, oder?“
„Mehr?“
„Wir wissen doch beide, dass das hier noch nicht zu Ende ist.“
„Ich weiß, dass Spencer uns noch ein letztes Mal sehen will.“
Ben versuchte, sich zu entscheiden, ob er die Geschichte aus Pater Hughs Tagebuch enthüllen sollte oder nicht, doch Phillip schüttelte nur leicht den Kopf, als ob er wüsste, was Bensagen wollte. „Weißt du was? Ich kann warten, Townsend. Du kannst warten. Schlechte Nachrichten erfährt man am besten von Fremden.“
Ein Gefühl der Erleichterung durchfuhr Ben. Phillip kannte die Wahrheit vielleicht sogar noch besser als Ben. Den Rest der Geschichte zu enthüllen war seine Aufgabe.
„Wo ist deine Mutter?“
Phillip runzelte die Stirn. „Warum?“
Ben nahm ihm die Frage nicht übel. Genau wie Dawn hatte man Nicky bereits zu viel abverlangt. „Ich muss ihr etwas sagen.“
Phillip musterte ihn und nickte. „Sie ruht sich in ihrem Zimmer aus.“
Oben klopfte Ben leise an Nickys Tür und wartete, bis sie ihn bat hereinzukommen. Sie saß neben dem Fenster und schaute nach draußen auf die Bäume. Er war überrascht, dass man die Bucht von hier aus sehen konnte. Die Flut kam näher.
„Nicky, darf ich mit Ihnen sprechen?“, fragte er.
Sie nickte, wandte ihm aber nach einem kurzen Blick wieder den Rücken zu.
„Ich muss Ihnen etwas sagen“, erklärte er ihr. „Etwas, von dem ich glaube, dass Sie es wissen sollten. Es ist etwas, das ich schon eine Weile weiß, aber ich hatte es nie verstanden. Ich …“ Seine Stimme versagte.
„War das hier genauso hart für Sie wie für den Rest von uns?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
„Für Sie war es härter als für die anderen.“
„Es gab so viele Dinge, die ich nicht verstanden hatte.“
Ben war sich nicht sicher, ob Nicky mit ihm oder mit sich selbst sprach. Oder vielleicht sprach sie mit den Menschen, die nicht mehr lebten. Mit der Frau, die sie weggegeben hatte, oder mit dem Mann, der sie verlassen musste.
„Ich habe Pater Hughs Tagebuch gelesen“, erklärte Ben. „Das ganze Buch.“
„Dann wissen Sie Bescheid.“
„Ich weiß, dass Sie sich im Krieg kennengelernt haben.“
„Ja. Und ich hatte auch das Vergnügen, den Senator kennenzulernen.“
„Ich habe den letzten Sommer bei Pater Hugh verbracht“, sagte Ben. „Bevor er starb. Ich kannte ihn gut. Manchmal haben wir uns spätnachts noch unterhalten wie gute Freunde. Er war mir näher, als mein eigener Vater es je gewesen ist.“
Ben wusste, dass er bei dem Versuch, zum Kern der Sache vorzudringen, abschweifte. „Nicky, ich habe ihn einmal gefragt, warum er das, was er getan hatte, getan hat. Ob er sich von Gott berufen fühlte, während so viele andere gläubige Männer der Bürgerrechtsbewegung ihm den Rücken kehrten. Und er sagte …“ Ben brach ab. Er war sich nicht sicher, ob er weitersprechen sollte.
Sie drehte sich um und betrachtete ihn mit festem Blick. „Was hat er geantwortet, Ben?“
„Er lächelte und sagte Nein. Er sagte, er sei von einer Frau berufen worden.“
Nicky stand an der Tür, die zu Aurores Balkon hinausführte. Sie fragte sich, wie viele Nächte ihre Mutter an dieser Stelle gestanden und in dieselbe dunkle Landschaft hinausgestarrt hatte. Hatte Aurore dann an sie gedacht? Hatte sie ihren Söhnen beim Spielen unter diesen Bäumen zugesehen und an das Kind gedacht, das sie weggegeben hatte? Und hatte Hugh später, wenn er Aurore besuchte, an Nicky gedacht, sobald er seiner Mutter in die Augen sah?
Vermutlich.
„Wann kommst du ins Bett?“, fragte Jake. „Es wird immer später.“
„Das hat das Leben so an sich. Ist dir das vorher noch nie aufgefallen?“
„Es regnet jetzt noch heftiger oder täusche ich mich? Der Orkan kommt direkt auf uns zu.“
„Ich dachte gerade an
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