Gefahrliches Vermachtnis
der Spitze des Minaretts der Großen Moschee rief ein Muezzin die Gläubigen zum Gebet. Im Souk vermischte sich seine durchdringende Stimme mit dem Blöken einer Ziegenherde und dem „Balek! Balek“ der Verkäufer, die sich mit ihren Waren durch die engen Gassen schoben. Hier war es nie ruhig. Nicky liebte diesen Ort.
Phillip stand vor ihr, während sie zusahen, wie Männer ihre Gebetsteppiche ausrollten und sich mit dem Gesicht nach Mekka hinknieten, um zu beten. Nicky hatte das Beten schon vor Jahren aufgegeben, spürte in solchen Augenblicken der Ergebenheit jedoch einen kleinen Stich.
„Mustafa sagt, dass diejenigen, die an Gott glauben und Gutes tun, nichts zu befürchten haben. Selbst wenn sie Juden oder Christen sind“, erklärte Phillip.
Mustafa war Phillips bester Freund. Wie seine Geburtsstadt war er eine einzigartige Mischung aus Maure und Europäer. Er war ein Kind, das mit einem Bein im Orient und mit dem anderen im Okzident stand. Sein Französisch war fast so perfekt wie sein Arabisch und er sprach den Berberdialekt seiner Mutter. Vieles von dem, was er wusste, brachte er auch Phillip bei.
„Mustafa wird mal Politiker“, sagte Nicky, während sie über Phillips Schulter strich. „Eines Tages werden Männer wie er Marokko befreien.“
Phillip sah sie mit seinen ausdrucksvollen braunen Augen fragend an. „Was wird dann aus uns?“
„Wir werden nicht mehr hier sein, wenn das passiert.“ Nicky entging nicht, dass er missbilligend den Mund verzog. Phillip war zwölf geworden an dem Tag, an dem sie aus Frankreich geflohen waren, und er wollte damals nicht nach Marokko. Nun, mit dreizehn, wollte er nicht mehr weg. Sie verstand das Bedürfnis ihres Sohnes nach stabilen Verhältnissen. Aber die Welt war verrückt geworden und da war selbst ein instabiles Leben ein Geschenk.
„Es ist spät“, sagte sie. „Wir müssen in den Klub, damit ich mich umziehen und Adele helfen kann. Ihre beiden Mitarbeiterinnen sind krank und ich habe es ihr versprochen.“
„Hast du alles bekommen, was du wolltest?“
Sie hielt einen Korb in die Höhe. „Kreuzkümmel und Pfefferminze, Kerzen und einen Nachmittag mit meinem Sohn. Mehr brauche ich nicht.“
Er lächelte widerstrebend und ihr Herz machte einen Sprung. Phillip ähnelte seinem Vater zunehmend. Er hatte Gerards dunkle Augen, dasselbe einnehmende Lächeln und die Fähigkeit, sein Missfallen mit einer Bewegung seiner Augenbraue zum Ausdruck zu bringen. Er war genauso ernsthaft wie Gerard, aber sie dankte Gott jeden Tag, dass Phillip das Gute in seinen Mitmenschen sehen konnte. Und in sich selbst.
Sie eilten durch die schmalen Gassen der Medina, der Altstadt, wo es nach Gewürzen und Armut roch. Die Reichen lebten hinter gekalkten Mauern. Ihre Gärten rochen nach Jasmin und Orangenblüten.
Draußen vor den Toren der Stadt schien die Sonne unbarmherzig, während eine leichte Atlantikbrise den Gerüchen der Altstadt noch den Duft von Seetang hinzufügte.
„Was machst du heute Abend?“, fragte sie, als sie den Klub erreichten, wo sie jede Nacht sang. „Algebra? Latein? Geschichte?“
„Muss ich lernen? Morgen ist schulfrei. Kann ich nicht maleine Pause machen?“
„Natürlich. Falls es dir nichts ausmacht, den ganzen Sonntag zu lernen, wenn ich Rashida besuche. Vielleicht kannst du deine Bücher mitnehmen und mit Mustafa zusammen lernen. Obwohl ich das bezweifle, weil er sicher schon am Samstag lernt.“
Nicky verlangsamte ihre Schritte. Sie verbrachte zu viel Zeit bei Kerzenlicht und glühenden Zigaretten und genoss die Sonne, wann immer sich Gelegenheit dazu bot. Kleine Vergnügen waren nicht selbstverständlich, wo das kriegsgebeutelte Europa nur eine Tagesreise von hier entfernt lag.
Als sie am Boulevard Paris ankamen, hatte Phillip versprochen, an einem Tisch im Klub zu lernen. Wahrscheinlich würde er Algebra und Latein später einmal mit dem Geruch von Kurkuma und frittiertem Knoblauch verbinden.
Im Klub war es kühl. Die Ventilatoren brummten und die Papageien in den kunstvollen Käfigen hießen sie krächzend willkommen. Phillip steuerte gleich auf Pasha Alexander zu, seinen Liebling, den rotblauen Beweis für Gottes Faible für Farben. Er nahm ein paar Sonnenblumenkerne aus seiner Hosentasche und fütterte den Vogel damit.
„Nicky?“
Nicky wandte sich um, als sie Robert Gascons Stimme hörte.
„Robby, du bist schon so früh hier?“
„Ich gucke gerne dabei zu, wie mein Geld verdient wird.“
Robert Gascon war rundlich und
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