Gefahrliches Vermachtnis
verschwunden, Nicky?“, fragte Jake.
„Du meinst, worüber ich nachgedacht habe?“
Jake lehnte sich gegen einen Baum und zog sie an sich. Er legte ihr die Hände auf die Hüften, als fürchtete er, sie könnte ihm wieder weglaufen. „Ja. Worüber?“
„Ich habe versucht, das alles zu begreifen, Jake, und ich habe versucht, zu entscheiden, wie viel ich dir davon erzähle.“
„Mir?“
„Dir.“
„Was weiß ich denn nicht? Ich weiß, dass dich eine weiße Frau zur Welt gebracht und dich anschließend weggegeben hat. Und dass sie es dir nun aus dem Grab heraus beichtet, als ob sie es dir niemals hätte selbst sagen und dir dabei in die Augen sehen können.“
„Nein.“ Nicky sah ihm in die Augen. „Da ist noch etwas.“
„Ich weiß nicht, ob ich noch mehr ertragen kann, wenn ich überlege, wie sehr dich das alles mitnimmt.“
Nicky erinnerte sich, wie sie Jake das erste Mal begegnet war. Sie hatte sich auf dem Tiefpunkt ihres Lebens befunden. Phillip und sie hatten den Krieg in Marokko überlebt. Und obwohl die Welt ihr wieder offengestanden hatte, hatte sie kein Land der Welt gereizt. Sie hatte in der Schweiz eine wunderbare Schule für Phillip gefunden. Und statt in der Nähe ihres Sohnes zu bleiben, war sie zurück nach Frankreich gegangen, wo sie als Sängerin in einem kleinen Orchester in Paris sang.
„Erinnerst du dich an das erste Mal, als wir uns trafen?“, fragte sie.
Jake lächelte. Sein Lächeln hatte sie immer bezaubert, weil es das Wesen dieses Mannes widerspiegelte.
„Natürlich erinnere ich mich“, sagte er. „Als ob es gestern gewesen wäre.“
„Ich ging zu meiner ersten Probe und da warst du. Du hast jedem gesagt, was er zu tun hatte, obwohl das niemand außer mir beurteilen konnte. Damals hättest du auch eine Planierraupe um den Finger wickeln können.“
„Du warst immer schwer zu überzeugen.“
Nicky hatte sich nicht auf den ersten Blick in Jake verliebt. In jener Zeit war sie viel zu misstrauisch gewesen, um jemanden zu lieben. Schon gar nicht einen Mann wie ihn, der so schöne Sachen sagen konnte. Jake hatte das Orchester gemanagt; sie hatte nie jemanden härter arbeiten sehen. Er verfügte über viele nützliche Verbindungen in Paris und nutzte sie nach Kräften aus.
Nur Nicky hatte er nie ausgenutzt, in keinerlei Hinsicht. Und genau das liebte sie am meisten an ihm.
Jake zog sie näher an sich heran. „Als ich dich zum ersten Mal sah, fragte ich mich: Wie schaffe ich es nur, ihr einen Ring an den Finger zu stecken? Und ich gab mir sechs Monate Zeit.“
„Es hat Jahre gedauert.“
„Macht nichts. Du trägst meinen Ring. Etwas anderes zählt nicht.“
„Es waren sehr schöne Jahre, Jake.“
Nach einem Jahr in Paris hatte Jake in Amerika einen Plattenvertrag für das Orchester ausgehandelt. Nickys Karriere ging steil bergauf. Während Phillip die Universität von Yale besuchte, pendelte sie ständig zwischen Europa und den USA hin und her. Zu der Zeit wusste sie schon, dass Jake sie niemals verletzen würde und dass sie sich bei ihm sicher und geborgen fühlen konnte. Sie hatte nicht eine Sekunde bereut, dass sie ihn geheiratet hatte, und sich auch nie mehr nach einem anderen Mann gesehnt.
Aber das war nicht immer so gewesen.
Nicky legte ihre Hände auf Jakes Schultern. „Ich möchte dir etwas über Marokko erzählen.“
Er wirkte überrascht.
„Marokko?“
„Ich möchte, dass du etwas weißt, Jake. Es ist wichtig.“
„Gut, aber muss das ausgerechnet hier sein?“
„Komm, wir machen einen Spaziergang.“
Er schien zu begreifen. „In Ordnung.“
„Das, was ich dir erzählen werde, hatte in gewisser Weise hier seinen Ursprung. Die Dinge gehen immer einfach so weiter, solange sie geheim gehalten werden.“
„Vielleicht hat die alte Dame versucht, zu verhindern, dass sich alles wiederholt.“
Nicky wollte sich ihrer Mutter nicht so nahe fühlen. Aber in diesem Moment konnte sie nicht anders. Denn sie verstand plötzlich besser als irgendjemand sonst, wie giftig Geheimnisse sein konnten.
13. KAPITEL
Casablanca, 1941
N icky führte Phillip durch die schmale Tür eines Ledergeschäfts, das nach frisch gefärbten Babouches und Lederpantoffeln roch. In dem einen Jahr, seit sie in Casablanca lebten, hatten Phillip und sie sich allmählich an die bequeme einheimische Tracht gewöhnt, vor allem für ihre Ausflüge in die Stadt. Dabei hatte Nicky niemals vorgehabt, sich das Gesicht wie die Musliminnen zu verhüllen.
„Allahu akbar …“ Von
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