Gefahrliches Vermachtnis
Sie hatte Hugh an diesem Abend nicht großartig beachtet und war nur einmal kurz an seinen Tisch gekommen, so wie sie auch an anderen Tischen stehen geblieben war. Er hatte sie wissen lassen, dass er sie später in den Räumen über dem Klub besuchen würde.
Als es zwischen einem polnischen Juden und einem deutschen Agenten zum Streit kam, durfte Hugh sich nicht einmischen; er hätte sonst Aufmerksamkeit erregt. Schließlich wurde der Jude von der französischen Polizei abgeführt. Hugh fragte sich, wo der Mann am nächsten Tag wohl aufwachen würde.Nachdem er sich versichert hatte, dass er niemandem aufgefallen war, schlüpfte er durch das Sicherheitstor, das Nicky für ihn offen gelassen hatte.
Sie wartete auf ihn, rauchte eine Gauloises am Fenster. Sich umzuziehen hatte sie noch nicht geschafft. Aber ihr schwarzes altes Kleid war immer noch verführerisch und wie gemacht für Zärtlichkeitsbekundungen. „Du hast es also geschafft!“ Sie drückte ihre Zigarette aus und schmiegte sich in seine Arme. „Bist du aus geschäftlichen Gründen oder zum Vergnügen hier?“
„Zuerst das Vergnügen.“ Er küsste sie auf die nach französischem Tabak schmeckenden Lippen und strich ihr zärtlich über die einladenden Rundungen ihrer Hüfte. Es verging keine Nacht, in der er nicht von ihr träumte – und dass nichts mehr zwischen ihnen stand. Weder der Stoff ihrer Kleider noch der Krieg, noch eine Welt, die darauf beharrte, dass ihre Liebe verboten war. Sein Körper reagierte genau wie in den Träumen auf sie. Ein kurzer Augenblick. Eine Berührung, und er war bereit, sich für immer in ihr zu verlieren.
In seinen ersten Jahren nach dem Priesterseminar hatte er sich desillusioniert und rebellisch gefühlt. Dann war er in Marseille dieser Frau begegnet, die ihn bereitwillig in die Geheimnisse der körperlichen Liebe eingeweiht hatte.
Bis dahin hatte er geglaubt, über den Versuchungen des Fleisches zu stehen. Annamaria hatte ihm jedoch bewiesen, dass er ein Mann war wie jeder andere.
„Jetzt zum Geschäftlichen.“ Er löste sich von Nicky und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie hatte ihm einmal gesagt, wie sehr es sie quälte, dass er nicht mit ihr schlief. Auch jetzt spürte er ihre innere Anspannung. Sie verstand nicht, dass er das Bedürfnis hatte, sie zu beschützen. Er verstand es selbst nicht so ganz, wusste aber, dass er nicht mit ihr schlafen konnte. Noch nicht.
„Das überrascht mich nicht.“ Sie schüttelte seine Hand ab. „Es gibt aber nichts Wichtiges. Ich habe ein paar Testballonslosgelassen, aber noch keine Reaktionen.“
Er spürte, dass er sie verletzt hatte, aber er konnte es nicht ändern. „Nicky.“ Er streichelte sie mit seiner Stimme – ein armseliger Ersatz.
„Bist du deswegen hierhergekommen?“
„Nein. Ich bin hier, weil ich dich um Hilfe bitten wollte: Phillip soll mir seine Ohren leihen.“
„Phillip?“
„Er ist ein Sprachgenie. Seine Arabischkenntnisse sind fast so gut wie die der Einheimischen.“
„Mustafa hat es ihm beigebracht.“
„Ich weiß. Er hat ihm auch ein bisschen Berberisch beigebracht.“
„Höchstens ein bisschen Tarifit, aber er spricht es nicht fließend.“
„Vielleicht kann er mir auch gar nicht helfen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Andererseits …“
„Wie und wo?“
„Am Abend des ’Id al-fitr .“ Das Fest zum Fastenbrechen am Ende des Ramadans, des heiligen islamischen Fastenmonats, dauerte drei Tage. Hugh wusste, wie sehr Nicky und Phillip sich schon darauf freuten.
„In der Medina?“
„Die ganze Stadt wird auf den Beinen sein. Auch die Männer, denen Phillip folgen soll. Es ist schwierig, nah an sie heranzukommen. Wir haben schon versucht, andere auf sie anzusetzen, aber Phillip hat vielleicht größere Chancen. Bei einem englischsprachigen Kind schöpfen sie vermutlich keinen Verdacht.“
„Wer sind diese Männer? Kann es gefährlich werden?“
„Würde ich Phillip einer Gefahr aussetzen?“
„Er ist alles, was ich habe, Hap.“
Hugh nahm Nicky in die Arme. „Nicht mehr.“
Die Männer, um die es ging, waren Berber aus dem Rif-Gebirge. Bis vor Kurzem hatten sie den amerikanischen Geheimdienstin Tanger noch mit Informationen über die spanischen Truppenbewegungen versorgt. Doch dann waren sie plötzlich verschwunden und schließlich in Casablanca wieder aufgetaucht. Man befürchtete, dass sie ihre Loyalität anderweitig verkauft hatten. Phillips Aufgabe bestand darin, die beiden Männer zu belauschen und Hugh
Weitere Kostenlose Bücher