Gefahrliches Vermachtnis
zu informieren, worüber sie sprachen.
Der Plan war einfach: Phillip und Nicky würden die Medina besuchen und sich unters Volk mischen. Hugh wäre auch dort. Er würde Phillip nicht aus den Augen lassen und ihnen in angemessenem Abstand folgen, damit niemand auf die Idee kam, sie würden zusammengehören.
In der Nacht, als das Fest begann, schlenderte Nicky mit Phillip durch die Straßen und dachte an den Karneval in New Orleans. Die Kostüme hier sahen anders aus als dort, aber sie wirkten ebenso exotisch. Die Menschen ringsherum trugen ihre besten Kleider, und alles schien frisch gewaschen. Haare und Handflächen der Frauen waren hennarot gefärbt und ihre Augen kunstvoll mit Kajal geschwärzt. Männer mit sauberen weißen Turbanen standen in kleinen Grüppchen beisammen und lachten. Verkäufer priesen Kichererbsenpasteten und würzige Rindswürstchen vom Holzkohlengrill an. Phillip probierte alles aus, aber Nicky hatte keinen Appetit.
Hugh war schon am Vortag mit Phillip in einem überfüllten Kaffeehaus in der Medina gewesen, um ihm die Männer zu zeigen. Sie waren größer und schlanker als durchschnittliche marokkanische Männer. Und hellhäutiger. Einer von ihnen hatte rötliches Haar und blaue Augen, was für Berber nicht unüblich war. Das Gesicht des anderen – gebogene Nase, dunkle Augen und dünner Schnurrbart – bezeichnete Phillip als „Kamelgesicht“. Er war sich sicher, dass er die Männer wiedererkennen würde.
Nicky hoffte fast, er würde es nicht. Hugh versicherte ihr jedoch, dass die Männer keinen Verdacht schöpfen würden. Phillip und Nicky sollten englisch miteinander sprechen. Die Männer würden nicht davon ausgehen, dass Phillip sie verstand,weil nur wenige Amerikaner – wenn überhaupt – die Berbersprache verstanden. Nicky und Phillip sollten sich benehmen wie alle anderen Ausländer, die sich wegen des Krieges in Casablanca aufhielten.
Die Männer waren häufig im inneren Teil der Medina, unweit der Residenz des Deutschen Generalkonsulats gesehen worden. Die alte Medina war verglichen mit anderen marokkanischen Städten eher klein. Sie erinnerte an die Zeit, als Casablanca noch ein Fischerdorf gewesen war.
Bei Nacht und so voller Menschen wirkten die verwinkelten Gassen der Medina verwirrend. Nicky und Phillip kamen vom Weg ab. Als Nicky sich umsah, entdeckte sie Hugh in der Menschenmasse. Er lotste sie unauffällig wieder auf den richtigen Weg und machte sich wieder unsichtbar.
Phillip kostete seine Rolle voll aus. Er schlenderte lässig in der Gegend herum, probierte von allem und unterhielt sich lebhaft mit Nicky. Ab und zu blieb er stehen, um sich etwas Interessantes anzusehen, wie jemand, der exotische Eindrücke sammelte, um sie mit nach Hause zu nehmen. Doch Nicky sah, wie er die Menschenmenge mit seinen Blicken durchforstete. Er erfüllte seine Aufgabe voll konzentriert und mit der ihm üblichen Klugheit. Nicky dachte an Gerard und wünschte, dass er seinen Sohn kennengelernt hätte. Sie hatte Phillips Vater längst vergeben und war in der Lage, Gerards beste Eigenschaften in ihrem Kind wiederzuerkennen.
„Ich glaube, ich sehe sie.“ Phillip nahm ihre Hand.
„Sei vorsichtig.“
„Siehst du den großen Mann, der den Tänzern dahinten zuschaut?“ Er zeigte auf einen kleinen Platz, wo sich die Gasse gabelte.
Die Frauen, die den Ahouache vorführten, waren Chleuh- Tänzerinnen, Berberinnen in aufwendig bestickten Tuniken. Sie trugen blaue Turbane und silberne Bänder im Haar und sie sangen und tanzten im Rhythmus ihrer Trommeln im Kreis. Die Männer betrachteten die Frauen ohne großes Interesse. Siewaren in ein Gespräch mit einem dritten Mann vertieft.
„Ich möchte mir die Tänzerinnen aus der Nähe ansehen“, erklärte Phillip.
Nicky hätte es ihm am liebsten verboten. Hugh war nirgendwo zu sehen, und die Männer wirkten bedrohlicher, als sie gedacht hatte. Sie erinnerte sich an einen Ausflug in Rashidas Heimatdorf in der Nähe von Fez, wo ein Fest anlässlich eines Heiligen gefeiert wurde. Dort war sie Zeugin einer Fantasia geworden: Dutzende Männer mit weißen Turbanen waren auf ihren Pferden auf die Zuschauer zugeritten, bis die Menge schrie – sie mittendrin, gelähmt vor Angst. Die Pferde bäumten sich auf und dann stellten sich die Männer mit ihren Gewehren in die Steigbügel und feuerten Salven ab. Nun war ihr ähnlich beklommen zumute.
Trotzdem unternahm sie nichts und ließ Phillip in der Menschenmenge untertauchen, damit er sich einen
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