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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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geringfügige öffentliche Sparmaßnahmen, und wir müssen dichtmachen.«
    Ich nickte: »Und Ruth … Wie lange war sie hier?«
    »Ein halbes Jahr ungefähr, denke ich. Vielleicht sechs, sieben Monate. Sie war ziemlich unten, als sie kam – schlief den ganzen Tag, drei, vier Tage lang, stand nur zu den Mahlzeiten auf. Aber dann – kam sie wieder auf die Beine. Es schien lange Zeit gutzugehen. Aber dann begann die Vergangenheit, sie wieder einzuholen, zu quälen. Wie ich eben gesagt habe, wir hatten angefangen, uns Sorgen um sie zu machen. Sie wurde so furchtbar rastlos – als ob … Als wäre da etwas, was sie hätte tun müssen, wozu sie aber keine Zeit gehabt hatte.«
    Ich beugte mich vor. »Was war das in der Vergangenheit – was sie quälte?«
    Ihr Blick wurde grau und abweisend. »Darauf kann ich keine Antwort geben. Da habe ich, wie alle Sozialarbeiter, Schweigepflicht.«
    »Totale?«
    »Total und absolut und – unbestechlich.«
    Ich nickte. »Tja dann. – Aber du hast also keine Ahnung, wo in der Stadt sie sein könnte? Sie hat keine Adresse?«
    »Nein, leider.«
    »Was tut ihr mit Post? Muß sie nicht nachgesandt werden?«
    »Sie bekommt keine Post. Hat nie Post bekommen.«
    »Gibt es vielleicht jemanden von den anderen hier draußen, die mehr darüber wissen, wo ich sie finden kann?«
    »Das müßte in dem Fall Roar sein. Sie hat sich ein bißchen um ihn gekümmert. Aber er ist draußen und reitet, glaube ich.«
    »Wir haben jemanden gesehen, der da drüben am Wäldchen geritten ist, als wir kamen. Vielleicht finde ich ihn.«
    »Du kannst es ja versuchen. Aber … Sei ein bißchen behutsam mit ihm – in der Art, wie du mit ihm sprichst. Er ist ein wenig … eigenwillig.«
    »Ich werde behutsam sein. Kann er gewalttätig werden?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Nicht direkt. Aber wenn er sich verfolgt fühlt, dann haut er manchmal einfach ab. Und wir mögen nicht so gern die Polizei zu oft belästigen.«
    »Das verstehe ich.« Ich wandte mich Laila Mongstad zu. »Dann laß ich euch allein. Und wir treffen uns hier wieder – nachher?«
    Sie nickte.
    »Wir essen um halb eins zu Mittag«, sagte Jorunn Tveit freundlich, bevor sie ihre volle Aufmerksamkeit Laila zuwandte.
    Ich ging und schloß die Tür hinter mir. Der Flur roch nach altem Holz und frischer Farbe. Eine Treppe mit weißem Geländer führte in den ersten Stock. Durch eine offene Tür sah ich in einen Wohnraum. Auf einem flachen Tisch lag ein Haufen zerlesener Zeitungen, und in einer Ecke des Raumes konnte der tote Schirm eines Fernsehgerätes konstatieren, daß nichts passierte.
    Ich trat auf die Treppe vor dem Haus. Die Gruppe, die auf dem Acker gearbeitet hatte, machte Pause. Ein paar rauchten, andere hatten sich auf einen Pflug gesetzt, der neben dem Drahtzaun stand, der den Acker umgab. Hinten am Waldrand konnte ich noch immer den Reiter auf dem braunen Pferd erkennen.
    Ich gab ihm ein Zeichen, daß ich jetzt käme, und begann, das Feld zwischen uns zu überqueren.
    Der unebene Boden war unfreundlich zu meinen flachen Stadtfüßen, und ich hätte mir beinahe den Fuß verstaucht, als ich auf den Rand eines Grashügels trat.
    Der Reiter folgte dem Waldrand in Richtung Fjord, kehrte um und ritt dieselbe Strecke wieder zurück – auf mich zu. Er erinnerte an einen Wachposten. Einer, der das Grundstück gegen Einflüsse der Unterirdischen schützte, die vielleicht in den Gedanken all derer herumspukten, die sich hier aufhielten.
    Jetzt hatte er mich entdeckt, und ich spürte seinen starren Blick schon von weitem. Er zog die Zügel an und ließ das Pferd im Schritt gehen. Die nackten Bäume um sie herum und der verlassene Fjord hinter ihnen machten einen tristen Eindruck, in scharfem Kontrast zu dem lebendigen, dunkelbraunen Tier und dem angespannten, blassen Menschen auf seinem Rucken.
    Sein Haar war hell und lang, wie man es Anfang der 70er Jahre trug. Er hatte ein rotes Tuch um die Stirn gebunden, und das Gesicht …
    Es war etwas merkwürdig Bekanntes darin, daß mich zusammenzucken ließ.
    Es war …
    Ein kleines Kind, das ich einmal gekannt hatte?
    Und sein Name war – Roar …
    Während ich noch auf ihn zuging, wuchs das schlechte Gewissen in meiner Brust wie ein Tintenfleck auf trockenem Löschpapier. Er war oft in meinen Gedanken gewesen. Ich hatte mich oft gefragt, wie es ihm wohl ergangen war. Aber ich hatte nie versucht, Kontakt aufzunehmen.
    Von allen Plätzen auf der Welt war dies der letzte, an dem ich mir gewünscht hätte,

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