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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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ihn wiederzusehen.
    Er hielt die Zügel jetzt straff, und das Pferd war stehengeblieben. Das starke Tier dampfte weiß, und die dunkelbraunen Augen beobachteten mich mit dem verletzten Blick des Herren des Universums, gefangen von einem Pygmäen.
    Das Gesicht des Reiters war wie die Landschaft um uns herum: verblaßt und farblos. Die Haut war durchsichtig, und er hatte einen spärlichen hellen, gelblichen Flaum um den Mund herum. Das karierte Hemd und die Jeans waren vom vielen Waschen ausgebleicht, und unter dem Hemd trug er einen grauweißen Pullover mit kleinen, schwarzen Noppen in der Wolle.
    Als ich vor ihm stehenblieb, konnte ich sehen, daß er- ganz vage – auch mich wiedererkannt hatte.
    Ich mußte mich räuspern, bevor ich etwas sagen konnte. »Roar? – Ich hatte nicht erwartet, dich … hier zu treffen.«
    Er nickte, zweimal; das Pferd schlug etwas mit dem Kopf und trippelte mit den Hufen. Er straffte die Zügel.
    »Du – erinnerst dich an mich?«
    Er nickte wieder.
    »Wie …«
    Ich wollte ihn fragen, wie es ihm ergangen war, aber er unterbrach mich: »Ich will nicht darüber reden.«
    »Nein. – Das ist auch nicht der Grund, warum ich hier bin. Ich bin in einer ganz anderen Angelegenheit hier.«
    Als sei das eine Erleichterung, sagte er plötzlich: »Es wurde mir viel zu eng in Østese. Ich hielt es nicht aus – auf die Dauer. Ich ging wieder zurück – in die Stadt.«
    »Und zu wem?«
    »Zu niemandem! Zu mir selbst. Ich lebte auf der Straße – mehrere Jahre lang.«
    »Deine … Mutter. Wie geht es ihr?«
    »Ich spreche nicht mit ihr, sehe sie nie.«
    »Und dann fingst du an mit – Stoff?«
    »An irgendwas muß man ja glauben, oder?« Er hatte die Stimme gehoben, und das Pferd schlug wieder mit dem Kopf, wie um deutlich zu machen, daß ihm nicht gefiel, was da vor sich ging.
    »Glauben? An Stoff?«
    »Ja und? Kein Mensch kümmert sich mehr um uns Kinder, wenn wir erst mal auf der falschen Bahn sind. Ich war drei Jahre auf der Straße. Glaubst du, daß jemand kam und nach mir fragte – außer denen, die mich benutzen wollten?«
    »Es gab doch wohl Sozialarbeiter – Leute vom Außendienst?«
    »Mit einem Budget, das gerade reicht, damit sie sich einen eigenen Briefkopf drucken lassen können, ja! Die decken nicht einen Quadratmeter von dem ab, was da vor sich geht! Hätte ich den Rausch nicht gehabt – egal von was –, dann wär’ ich schon lange tot.«
    Ich schluckte, streckte meinen Rücken und sagte: »Aber jetzt bist du jedenfalls hier draußen. Und das bedeutet wohl, daß du beschlossen hast, was Neues anzufangen?«
    Er sah an mir vorbei, zu dem weißen Wohnhaus und dem roten Schuppen hinüber. »Hier hab’ ich jedenfalls ’n Dach überm Kopf.«
    Ich folgte der Richtung seines Blickes. Hinter den Gebäuden erhoben sich dunkle Wälder, in einer langgestreckten Kurve bis in den mittleren Teil von Lindås hinein. An ein paar Stellen stiegen dünne Rauchsäulen zum Himmel. Ansonsten wirkte es völlig ausgestorben, wie ein Ort, wo man Wüstenzulage empfangenmüßte, um sich dort niederzulassen.
    Ich sagte mit dünner Stimme: »Eigentlich bin ich wegen Ruth hergekommen.«
    Er antwortete nicht.
    »Ruth Solheim.«
    Er antwortete immer noch nicht.
    »Aber sie ist ja wohl wieder in der Stadt, oder?«
    Er nickte schwach, mit unbeweglichem Gesicht.
    »Du hattest ein gutes Verhältnis zu ihr, hab’ ich gehört? Obwohl sie … Wie alt bist du jetzt eigentlich, Roar?«
    »Siebzehn.«
    »Sie hat nicht gesagt, wohin sie wollte – in der Stadt?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Keine Adresse?«
    Er hatte mir nichts zu sagen. Sein Gesicht hatte etwas Versteinertes bekommen, wie bei einem verlassenen Kind in einer fremden Beerdigung.
    »Ihr mochtet euch? Kamt gut miteinander aus?«
    Endlich schien es, als wolle er etwas sagen. Er suchte nach Worten. »Sie … hat mit mir geredet. Sie war … nett.«
    Ich fühlte einen Druck hinter den Augen und mußte wieder schlucken, bevor ich etwas sagte. »Sie war wohl etwas rastlos – in der letzten Zeit?«
    Er zuckte mit den Schultern, nickte aber gleichzeitig.
    »Weißt du, warum?«
    Er schüttelte wieder den Kopf.
    »Hatte sie mit jemandem Kontakt – in der Stadt?«
    »Nicht, daß ich wüßte.«
    »Und Belinda Bruflåt? Sie war doch hier und hat sie besucht?«
    »Ja, schon. Aber die redete ja mit allen.«
    »Aber kurz bevor Ruth in die Stadt fuhr, war sie da nicht auch hier und hat mit ihr geredet?«
    »Doch … Ich glaub’ schon.«
    »Vielleicht könnte sie

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