Gefallene Engel
völlig verschiedenen Fähren.
Die Fähre, die wir nun erreichten, zwischen Steinestø und Knarvik, war die meistbefahrene in Norwegen, auf wahrscheinlich auch einer der kürzesten Strecken. Hier setzte der größte Teil des Überlandtransportes von Bergen nach Norden über, mit Zielen wie Stryn und Otta, Ålesund und Molde, Trondhein und Namsos. Fähren so groß wie Berge, mit Kapazitäten wie Kanalschiffe, brachten dich im Laufe von fünf Minuten über den Fjord, und man hatte kaum Zeit, das obere Deck zu besteigen, um fünf Minuten lang die Aussicht zu genießen, bevor man schon wieder auf die abgasverpesteten Autodecks hinunter mußte.
An einem Fähranleger zu warten ist das Schicksal der Vestländer. Kein Aufenthaltsort hat in ihren Seelen so tiefe Spuren hinterlassen wie eben dieser. Auf einem windigen Kai, wo es eine Würstchenbude gibt, die geschlossen ist, eine Telefonzelle, aus der die Leitung herausgerissen ist und einen Anschlag mit Fährabfahrtszeiten, der im Winter den Sommerfahrplan zeigt (und umgekehrt), dort wird ihr Leben geformt. Wo sie auf dem Weg hinaus in die Welt sind, von zu Hause, oder auf dem Weg nach Hause, zu Hochzeiten oder Beerdigungen. Dorthin begleiten sie ihre Geliebten bis zum letzten Abschied, dort sitzen die Rivalen in großen Autos und warten darauf, zu übernehmen. Dort setzen sie ihre Koffer und Rucksäcke ab, ihre Pappkartons mit Büchern und Bildern, auf dem Weg zu dem neuen Leben in den Universitätsstädten. Dort kommen sie angetrunken an Land, nachdem sie vierzehn Tage in der Nordsee waren, nach Hause vom Militärdienst oder der Pädagogischen Hochschule; dorthin kommen Frauen mit Kindern auf dem Arm und Alte mit steifen Stöcken als Hilfe gegen das Rheuma, nachdem sie drüben im Ort beim Arzt gewesen sind. Dort kreuzen sich Lebensläufe, mehr oder weniger unbemerkt. Dort werden Karten über neue Verläufe gezeichnet, während andere ausradiert werden. Und alle warten auf die Fähre, die sich immer irgendwo auf dem Fjord befindet. Denn auf Fähren zu warten ist das Los der Vestländer.
Aber in Steinestø war die Wartezeit auf ein Minimum reduziert, und als wir ankamen, an einem Donnerstagmorgen im Dezember, lag die Fähre da und gähnte uns in ihren Schlund hinein, zusammen mit zwanzig anderen Autos, so wenigen, daß es uns fast peinlich war, daß sie unseretwegen den Fjord überqueren sollte.
Wir stiegen aus und gingen an Deck. Es war, als überquerte man den Fjord auf der Spitze eines Eisberges. Im Süden erhoben sich Veten und Håstefjell hinter der alten BMW-Anlage in Hordvikneset. Im Westen lagen Holsnøy und Askøy, im Osten die dunklen, steilen Bergwände auf Osterøy und im Norden die flache, freundliche Landschaft um Lindås, bevor sich die Berge in Masfjorden wie eine dunkle Barriere gegen das Licht und die Sonne abzeichneten. Die Bergspitzen waren mit Weiß gewürzt und schimmerten wie Heiligenscheine im starken Vormittagslicht. Die Luft selbst war wie ein Versprechen reicherer Tage, mit der Nadel in glatte Bleiplatten geritzt, fertig zur Vervielfältigung.
Ich sah Laila Mongstad an. Sie schlug den Jackenkragen hoch gegen den Luftzug vom Wasser her, und ihr Gesicht bekam zaghafte Verzierungen in Rot, wo der Frost am beißendsten war. Ich legte ihr einen Arm um die Schultern und sagte: »Frierst du?«
»Ein bißchen«, sagte sie und lehnte sich einen Moment an mich. Sie hatte braunschwarze, fremdartige Augen mit großen Pupillen und großer Wärme. Ich sah auf ihren Mund und dachte daran, wie wir als Kinder hängenblieben, wenn wir im Winter mit der Zunge an Metall kamen. Vielleicht war das der Grund, daß ich sie nicht küßte.
Dann war der Augenblick vorbei, und sie richtete den Kopf wieder gerade, sah zum Horizont und sagte: »Wir sind irgendwie – über der Landschaft. – Fühlst du das nicht auch?«
Ich nickte. »Aber jetzt müssen wir runtergehen und in sie hineinfahren. Sonst sind wir wieder auf der Rückfahrt.«
Wir setzten uns wieder ins Auto, als die Fähre mit einem erstaunlich leichten Stoß anlegte. Die Fährmannschaft dirigierte uns an Land, wo eine Schlange von Autos wartete, die in die entgegengesetzte Richtung wollten. Wir erklommen den ersten Berg bei Knarvik und bogen bei Idalsto nach Norden ab, zuerst durch eine herbstbraune Böschung mit rundlichen Baumstämmen, danach einen Weg entlang, der sich zwischen knorrigen, kleinen Fjellkuppen hindurchschlängelte, bis wir auf der weiten, offenen Fläche auf der Lindåshalbinsel waren, an
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