Gefallene Engel
diesem Anlaß.«
Sie seufzte schwer. »Dann geht es also möglicherweise um das Erbe?«
Ich nickte und griff nach dem Strohhalm, den sie mir reichte. »Ja, das kann man sagen.«
»Tja, es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber … Ruth ist nicht mehr hier.«
Ich sah sie an. Ihre Augen verrieten nichts. Sie könnte eine Fährangestellte sein, die es bedauerte, daß die Fähre leider schon weg sei, die nächste führe aber in nur einer Stunde.
»Nein? Wo ist sie denn?«
Sie zuckte mit den Schultern. »In der Stadt, nehme ich an. Sie … Sie ist eine Zeitlang sehr rastlos gewesen, und ich konnte ihr fast ansehen, daß etwas in ihr gärte. Wir taten, was wir konnten, um sie dazu zu bringen zu bleiben. Das Wichtigste von allem ist, sie von dem alten Milieu da drinnen fernzuhalten.« Sie hatte die Stimme gehoben und sah wütend nach Süden, als läge dort Sodom. »Wir haben sogar Belinda geholt, damit sie mir ihr spräche …«
»Wer sagtest du? Welche Belinda?«
Sie sah mich verwundert an. »Belinda Bruflåt. Sie ist wohl so eine Art Popsängerin in der Stadt, aber sie ist hier draußen aufgewachsen, und ihr Vater sitzt seit vielen Jahren in unserem Kommunalparlament. Sie hatte, früher jedenfalls, sehr guten Kontakt zu – Ruth.«
»Ach ja? Kam sie regelmäßig hier raus?«
»Belinda? Ja. In einer offizielleren Institution würde man sie vielleicht eine Betreuerin genannt haben. Für uns hatte sie eine positive, soziale Funktion. Sie kam in Kontakt mit denen, die hier wohnen, sprach deren eigene Sprache, gehörte derselben Generation an – kurz gesagt, sie hatte hier eine Aufgabe. – Aber dieses Mal half es nichts. Nur zwei Tage, nachdem sie dagewesen war, verschwand Ruth.«
»Und wann war das?«
Sie sah auf einen Kalender, der über der Schreibmaschine an der Wand hing. »Tja. Anfang letzter Woche, denke ich. Ich kann es im Journal nachschlagen, wenn es wichtig ist.«
Ich nickte. »Ja, danke.«
Während sie das tat, sah ich zu Laila Mongstad hinüber. »Halte ich dich jetzt auf?«
Sie schüttelte freundlich den Kopf. »Ich höre zu. Dies ist ja auch eine Form von Hintergrundmaterial.«
Jorunn Tveit war an der richtigen Stelle im Journal angekommen. »Hier haben wir es. Es war letzte Woche Montag.«
»Aha. Montag. – Wißt ihr, wo sie in der Stadt wohnt?«
»Nein. Wenn sie von hier weggehen, dann auf eigene Faust. Der Aufenthalt hier draußen ist hundert Prozent freiwillig. Das einzige, womit wir arbeiten, ist die Motivation.«
Ich sah aus dem Fenster. »Was tut ihr hier draußen eigentlich?«
Wieder seufzte sie. »Wir sind eine Art – Erholungsheim. Wir machen den jungen Drogenabhängigen ein Angebot. Sie können hierherkommen, in einem freiwillig und selbstkontrolliert stofffreien Milieu leben, die Behandlung erhalten, die wir im Rahmen unserer finanziellen Möglichkeiten bieten können – das bedeutet Arzt, Psychologe, Sozialarbeiter – und hoffentlich wieder auf den rechten Weg gelangen. Wir betreiben den Hof hier draußen, bauen hauptsächlich Gemüse und Kartoffeln an, haben ein paar Tiere, die Möglichkeit, im Fjord zu fischen – verschiedene Kursangebote. Wir versuchen, kurz gesagt, sie zu aktivieren, sie zu körperlicher und geistiger Arbeit anzuhalten, sie einfach – an etwas anderes denken zu lassen.«
»Ja, kriegt ihr öffentliche Unterstützung, oder seid ihr nur eine private Institution?«
»Beides. Wir sind eine private Stiftung, bekommen aber auch einiges an finanzieller Unterstützung von öffentlicher Seite, zusätzlich zu privaten Spenden und dergleichen. Unsere Zielsetzung ist eine idealistische, und wir sind politisch und religiös unabhängig. Das letztere hat uns vielleicht die größten Probleme bereitet, hier in der Umgebung, und Bruflåt – Belindas Vater – ist sozusagen auf uns angesetzt, wie eine Art öffentlicher Wachhund.«
»Und habt ihr Erfolg?«
»Fragt sich, was du damit meinst. Ein paar Jugendliche bringen wir, glaube ich, wieder auf den richtigen Weg – sonst wäre es sinnlos, hier weiterzumachen. Andere machen diesen Distrikt zu ihrem ständigen Aufenthaltsort. Wir haben eine junge Familie, die ein paar Kilometer von hier einen kleinen Hof betreibt, wo beide Eltern schwer drogenabhängig waren, bevor sie hierherkamen, kleine Kinder hatten sie auch, die ihnen das Jugendamt jetzt zurückgegeben hat, endgültig. – Wenn du finanziell meinst, dann ist die Antwort eher ein Tja. Wir halten uns über Wasser, gerade so eben. Aber nur ein paar
Weitere Kostenlose Bücher